Dushan-Wegner

25.04.2020

25. April 2020 – Zwischenstand

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Foto von Fé Ngô
Wir fahren durch die Geschichte wie Autofahrer mit defektem Navi. Einige Daten stimmen, andere sind falsch, und wir hoffen, uns nicht allzu schlimm zu verfahren. Welche ANDEREN Möglichkeiten gäbe es aber?
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Einst, als Navigationssysteme nicht so einfach aktualisierbar waren wie heute, damals also, als man viele Jahre mit denselben Kartendaten durch Deutschland fuhr, da ist es mir einmal passiert, dass ich in ein bayerisches Neubaugebiet fuhr – und prompt war das System gründlich überfordert.

Einige Straßen kannte das Navigations-System nicht, und es behauptete stur, ich befände mich außerhalb öffentlicher Straßen. Andere Verbindungen, die das System mir vorschlug, waren nicht mehr legal passierbar.

Mit mir saß Elli im Auto, und wir hatten das neugeborene Töchterlein dabei , kaum mehr als eine Woche alt. Wir wollten meinen Großeltern ihre erste Urenkelin vorstellen, und so drehten wir zunächst einige schleifenreiche Runden durch schöne bayerische Siedlungen, bis wir einsahen, dass die Absolutheit der maschinellen Ansagen nicht zwingend gerechtfertigt war.

Wir glichen die Ansagen der stets bemühten, doch mit veralteten Informationen rechnenden Maschine mit der offenkundigen Realität ab.

Wir lernten, die blanke Anschauung und unsere eigene Vernunft gegen die logischen, aber eben teils falschen Ansagen der Maschine abzuwägen.

Wenige Meter vor dem Ziel noch mahnte die elektronische Stimme: »Bitte wenden, bitte wenden!«

Nun klänge es zunächst vernünftig, dass man ein System einfach ausschalten sollte, wenn es nach veralteten Informationen denkt und also teils falsche Handlungen vorschlägt, doch, um aus blanker Notwendigkeit einen in den letzten Jahren sehr prominenten Begriff anzuwenden: Was wäre die Alternative?

Sollten wir, damals, auf die Karten-App eines »smarten« Mobiltelephones zur Navigation umsteigen? Sollten wir wieder zum Papier greifen? – Nun, Karten aus Papier hatten wir schon damals nicht mehr, und ein Smartphone mit Karten-App hatten wir damals noch nicht – lange Rede kurz: Wir haben das »Navi« nicht ausgeschaltet.

Einige der Angaben des Systems waren falsch, das ist richtig, aber andere Angaben waren eben noch immer richtig – und außerhalb jenes Neubaugebiets waren sie fast immer präzise. Mit der Zeit lernten wir, das Navi-System zu nutzen und dennoch um seine Mängel herum zu navigieren.

Übereinkunft auf gegenseitiges Bemerktwerden

Am 25. April ist mein Geburtstag. Am Jahrestag der portugiesischen Revolution (siehe etwa mein Essay vom 25.4.2018).

Als ich ein Kind war, da war mir mein Geburtstag wichtig, weil ich Geschenke bekam, weil ich der Mittelpunkt war.

Später, als ich zu den Leuten gehörte, die sich »erwachsen« nennen, als ich also zu den »Erwachsenen« gehörte, da lernte ich, dass Geburtstage zu diesen Übereinkünften auf gegenseitiges Bemerktwerden gehören: »Ich tue für einen Tag so, als wärest du mir wichtig, doch ich erwarte dafür, dass am entsprechenden Tag auch du tust, als wäre ich wichtig, generell ›wichtig‹, und natürlich dir wichtig«. – (Randnotiz: Wenn Geburtstage einem nicht genügen, um sich grundlos wichtig zu fühlen, dann kann man noch immer Journalist werden und einander Journalistenpreise verleihen; siehe dazu »Fünf Tonnen Blech«.)

Am 25. April ist also mein Geburtstag, exakt am Tag der portugiesischen Nelkenrevolution, und heute bedeutet mein Geburtstag mir wieder etwas – jedoch etwas anderes.

Nicht etwa dümmer

Kein Zweifel: Es hat Nachteile, alt zu werden. Seit einem Jahr, oder so, nehme ich die Brille ab, um Geschriebenes aus der Nähe lesen zu können. Andere Nachteile zu berichten wäre langweilig.

Es hat aber auch, ja, Vorteile, alt zu werden. (Einige meiner Leser betrachten »46« als keineswegs alt, aber denen sage ich: doch, auch ihr fandet 46 alt, als ihr so alt wurdet – und für andere Leser ist 46 so alt wie Methusalem selbst, ob sie nun ohne zu googeln wissen, wer Methusalem war, oder eben nicht).

Geburtstage sind für mich, heute, nicht so sehr ein Grund, mich auf Spielzeug oder Torte zu freuen (wenn auch dieses Jahr, Quarantäne sei dank, die Familie mir einen extra liebevollen Kuchen gebacken hat) – Geburtstage sind mir heute zuerst und zuletzt ein Anlass zu fragen, was ich gelernt habe, zu prüfen, ob ich wirklich klüger geworden, in irgendwas, oder ob ich nicht etwa dümmer wurde.

Wenn ich heute, am 25. April 2020, frage, was ich gelernt habe, mit 46, dann wäre die präziseste Metapher, und damit Beschreibung, wohl die Geschichte mit dem Navigationssystem, das mit veralteten, unvollständigen Daten arbeitet – das begab sich übrigens um Burgweinting herum, wo wir damals meine Großeltern besuchten, und mein Großvater lebt nicht mehr, und meine Großmutter lebt, und sie lebt woanders, wenn auch noch immer im schönen Bayern, und ich hoffe das dumme Virus kriegt sie nicht – sie hat Besseres verdient.

Die Bekanntmachungen der NASA

Das verfluchte Virus, wie der nicht minder verfluchte deutsche Staatsfunk, beide bringen sie Leid über die Menschen (dem Virus mache ich keinen Vorwurf – es ist ein Virus) – beide stören und ver-stören unser… Navigationssystem.

Es war, pardon: Es ist etwas anderes, das ich 2020 als »Gelerntes« notiere, etwas anderes als im Jahr zuvor. Es wird (hoffentlich!) etwas anderes sein, das ich nächstes Jahr als »Gelerntes« notiere.

Für jetzt, für 2020, für die Pandemie, für unsere (!) »gemeinsame Einsamkeit« – für heute halte ich als Gelerntes fest: Wir sind alle wie Autofahrer mit defektem, unvollständigem Navigationssystem, und wir spüren, dass uns etwas in den Navigationsdaten fehlt, und doch ist es unsere Aufgabe, mit diesen unvollständigen und teils veralteten Daten zu navigieren – und nebenbei auch noch herauszufinden, was überhaupt unser Ziel war.

Wir sollen tun, was wir tun können, und also ist das, was wir tun können und was wir tun sollen: Wir tun unser Bestes, trotz allem, in Mitten von allem, bei unvollständigen Navigationsdaten dennoch an unser Ziel zu gelangen. (Und wenn das System kurz vorm Ziel auch rufen sollte: »Bitte wenden, bitte wenden!«, soll es doch, wir lassen uns nicht davon abbringen! (Hoffentlich.))

Heute verfügt jedes Smartphone über eine Navigations-App, und wenn das Ding nicht gerade an gewiss nichts-als-benevolente Behörden meldet, ob oder nicht wir heute einen Corona-Patienten getroffen haben, dann verrät es uns ebenso tagesaktuell, wo diese Straße und wo jene Umleitung langgeht.

Was aber die großen Linien angeht, die wirklich wichtigen Lebensentscheidungen, und, ja, die großen Entscheidungen für den Staat und dessen Volk, da navigieren wir bei voller Verantwortung und doch unvollständiger Information. Wir schreiten gewissermaßen »mutig in den Nebel«, und die Kunst besteht darin, sich nicht zu fürchten (siehe auch Essay vom 17.4.2020: »Windstöße auf schmaler Brücke«).

Liebe Freunde, Leser und Wegbegleiter, das ist was ich an meinem sechsundvierzigsten Geburtstag als Gelerntes festhalte: Wir üben uns gerade heute darin, die blanke Anschauung und unsere bestmögliche Vernunft mit den logischen, aber eben teils auf schlicht falschen Daten beruhenden Vorhersagen abzugleichen.

Es kann uns passieren, und das wird mir in diesem Jahr dieser Samzara-Runde besonders deutlich bewusst, dass die Systeme laut brüllen »weiter geradeaus!«, während wir sehen, dass »weiter geradeaus« eine geradezu wahnsinnig gefährliche Richtung wäre, und dann braucht es Mut, selbstbewusst dem System zu widersprechen.

Es kann aber auch sein, dass wir selbst »weiter geradeaus« wollen, das System aber »bitte wenden, bitte wenden!« mahnt, und dass das System eben richtig liegt, was wir erkennen können, wenn wir einfach hinschauen, wohin diese Straße führt, und dann brauchst es selbstbewusste Bescheidenheit, sein Ego zurückzustellen und zu wenden.

Es hat seine Nachteile, älter zu werden, beginnend mit der schlichten Weltwahrheit, dass die persönliche statistische Restlaufzeit täglich weniger wird. Man denkt an jenen berühmten Witz, den Woody Allen zu Beginn von Annie Hall (»Der Stadtneurotiker«) erzählt – ich paraphrasiere: »Zwei alte Damen im Restaurant, die eine sagt: ›Das Essen hier ist wirklich schrecklich!‹, und die andere darauf: ›Ja, schrecklich, und so kleine Portionen!‹«

Es hat natürlich auch Vorteile, älter zu werden. Ein Vorteil ist: Man kann mit dem Alter auch bescheidener werden, bescheidener darin, worin man glaubt, sicheres Wissen zu besitzen.

Es hilft nicht beim arroganten Dreingucken, wenn man sich vorm arroganten Dreingucken zunächst für die richtige Lesebrille entscheiden muss.

Man begreift mit dem Älterwerden immer besser, was Rumsfeld meinte, als er vor den »unknown unknowns« warnte, also vor jenem, wovon wir nicht einmal wissen, dass wir es nicht wissen.

Ich danke Ihnen also heute, liebe Leser, von denen ich einige persönlich kenne, denen ich mich allen persönlich verbunden fühle, ich danke Ihnen, dass wir gemeinsam ein weiteres Jahr älter wurden.

Ich wünsche uns, dass wir auch gemeinsam ein Jahr weiser wurden. Seit letztem Jahr haben wir, unter anderem, Fluten in Venedig erlebt, wilde Buschbrände in Australien, einen Angriff auf den Iran im Irak, und nun den Ausbruch einer Pandemie. Ich bin ehrlich gespannt, was uns noch alles bevorsteht in den nächsten 12 Monaten. Ich behalte auf jeden Fall die Bekanntmachungen der NASA zu nahenden Asteroiden im Blick (ja, das ist echt: cneos.jpl.nasa.gov).

Wenn ich mir nur eine Sache wünschen dürfte, dann dass ein Wunder geschieht und Deutschland den verfluchten Staatsfunk von seinem Rücken abschüttelt, dass wir uns selbst die elende Dummheitsmaschine dem Hirn entfernen, wieder frei werden und aus unserer halbverschuldeten Unmündigkeit hinaus gehen, neu zur Vernunft finden, und – wenn du schon träumst, träume groß! – dass eine neue Aufklärung beginnt.

Wenn das aber nicht gelingen sollte – Wunder brauchen bekanntlich etwas länger – dann wünsche ich uns doch zumindest, dass wir alle, jeder einzelne, zumindest in Würde älter werden, ob unsere persönliche Alterszahl näher an der 18 oder an der 108 liegt.

Ich wünsche mir und uns gute »Navigationssysteme«, gespeist mit alter Weisheit und neuer Erkenntnis, dazu die Bescheidenheit, auch darauf zu hören – und das Selbstbewusstsein, alle Ansagen zu prüfen und zuletzt stets selbst zu entscheiden.

Es gilt weiterhin, wie alt man auch ist: Prüfe alles, glaube wenig, und lenke, pardon: denke selbst!

Weiterschreiben, Wegner!

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