Dushan-Wegner

17.04.2018

Es bräuchte ein West-Fernsehen, das uns sagt, was in Syrien wirklich passiert

von Dushan Wegner, Lesezeit 10 Minuten, Bild von Cédric Dhaenens
Je mehr ich über die Syrien-Krise höre, um so weniger verstehe und glaube ich. Wir wurden zu oft belogen. Wir bräuchten ein neues West-Fernsehen, das uns sagt, was wirklich passiert!
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Der Trump, habe ich gehört, hat in Syrien letzte Woche irgendwas bombardiert. Also, er hat es nicht selbst bombardiert, das war schon die stolze US-Armee. Und was ich so gehört habe, war es ein »Vergeltungsschlag«. Es war ein Vergeltungsschlag wegen Chemiewaffenangriffen.

Verstehen Sie, was in Syrien passiert? Verstehen Sie, was dort richtig ist und was falsch?

Selbstverständlich wissen Sie und ich aus dem berühmten Effeff, wo Syrien liegt und was seine Geschichte ist. Für die Ehrlichen und Nicht-Nahost-Experten unter uns aber, hier zur Vorspeise hundert Gramm vom Hintergrundwissen!

Zuerst: Syrien liegt am Mittelmeer. Im Norden grenzt es an die Türkei, im Süden vor allem an den Irak und Jordanien, im Westen ein wenig an Libanon, und via Golanhöhen grenzt Syrien an Israel.

Die Grenzgebiete Syriens sind nicht unbedingt ein gelobtes Land für Pazifisten und andere Sanftseelen, die an die prinzipielle und grundsätzliche Friedfertigkeit des Menschen glauben! Das Grenzgebiet zur Türkei wird vom Siedlungsgebiet der Kurden, dem sogenannten »Kurdistan« überlappt. Im ersten Golfkrieg unterstützte Syrien den Iran gegen Syriens eigenen Grenznachbarn Irak, und heute erstreckt sich das Gebiet des »Islamischen Staats« wesentlich über Irak und Syrien. Wer aber »Golanhöhen« hört, der denkt oft an den Sechstagekrieg. Damals, im Jahr 1967, hatten arabische Staaten einen Angriff auf Israel geplant, doch Israel war früher wach, flog am 5. Juni 1967, um 07:45 Uhr, unterm Radar nach Ägypten, wo man etwa 450 Flugzeuge der arabischen Streitkräfte (MiGs, Tupolevs etc.) und 18 Flugfelder zerstörte. Am Ende des Sechstagekriegs, am 10. Juni 1967, stand die arabische Front etwas geknickt da (um es mit der für diese Region stets notwendigen Höflichkeit auszudrücken), und Israel hatte zum Finale die Golanhöhen eingenommen, was zwar riskant, aber notwendig gewesen war, da sich von diesen Anhöhen aus allzu einfach nach Israel hineinschießen lässt.

Syrien ist umgeben von Krisengebieten und Erinnerungen an vergangene Schlachten. In den Zeiten der Römer war die Region reich und hieß »Syria«. Im siebten Jahrhundert wurde die Region islamisiert im Rahmen der arabischen Eroberung der Levante (Großsyriens). Das heutige Syrien ist Ergebnis mehrerer Staatsstreiche und Umbrüche im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts. Die »Revolution des 8. März« (1963) brachte in Syrien die »Arabisch Sozialistische Ba’ath-Partei« unter Assad Senior an die Macht, eine Tochter-Partei der gesamtarabischen Ba’ath-Partei, die damals auch im Irak erfolgreich war. Derzeitiger Vorsitzender der syrischen Ba’ath-Partei ist Baschar al-Assad. Ein recht bekannter Politiker der irakischen Ba’ath-Partei war übrigens Saddam Hussein.

In 2011 brachen Proteste gegen Assad aus. Im Guardian schrieb damals Maher Arar: »Daraa protests are the spark Syria needed« — »Proteste in Daraa sind der Funken, den Syrien brauchte«. Für die Open Society spekulierte Fatima Ayub bereits über mögliche Lösungen für die Zeit nach dem Ende Assads. Man wünscht sich eine »political transition to democracy« – man fragt nicht, welches Land in der islamischen und arabischen Welt (was nicht deckungsgleich ist) hierzu als Vorbild dienen sollte.

Nebel des Syrischen Krieges

Die Proteste mündeten nicht in der Demokratie; sie mündeten im Bürgerkrieg. Nun kämpfen der »Islamische Staat in Irak und Syrien«, kurz: »ISIS«, die syrische Regierung, sowie Russland und die USA. Die jüngsten Schläge gegen Chemiefabriken spielen eine Rolle, aber welche genau, das ist noch nicht ganz klar.

Die Mitspieler in diesem brutalen Strategiespiel sind von unterschiedlichen Motivationen getrieben.

Assads Interesse ist selbstverständlich das Bewahren seiner Macht. Falls er Giftgas einsetzt (haben Sie »Beweise« gesehen?), dann könnte er dafür einen sehr einfachen Grund haben: Effektivität. Krieg wird auch und wesentlich im Kopf der Besiegten gewonnen, und Menschen, die bei Falschverhalten den Tod vom Himmel fürchten müssen, begehren weniger auf. Zynisch gesagt: Vergifte Hundert, erziehe Hunderttausende.

Trumps USA hat Obamas Unterstützung »moderater« islamistischer Gruppen beendet und möchte in Syrien eigentlich »nur« ISIS bekämpfen. Wenn Trump nebenbei etwas Stärke gegen Putin beweisen kann, wird er es gern in Kauf nehmen, gerade um den von Clinton-nahen Medien verbreiteten Russland-Verschwörungstheorien zu begegnen. Der Luftschlag am Freitag den 13. April 2018 mit 105 Raketen gegen syrische Ziele war eine Art von Diplomatie mit Waffen des Dealmakers Trump, ähnlich wie ein Jahr zuvor der Luftschlag auf den Militärflugplatz asch-Schaʿirat. Trumps politische Ziele sind ökonomischer Natur, nicht geostrategisch; er wird versuchen, das Syrien-Problem so effektiv wie möglich zu erledigen.

Russlands Rolle in Syrien scheint die abstrakteste zu sein. Putin will Stärke als Weltmacht und es verbindet ihn seit jeher eine Nähe zur Assad und seiner Partei. Innerhalb von Russland ist der Syrien-Einsatz nicht so populär wie der Ukraine-Einsatz, insofern ist es für Putin ratsam, es zum Kräftemessen auf Augenhöhe mit der Großmacht USA hochzustilisieren.

Israel teilt sich ein Stück seiner Grenze mit Syrien (auch wenn sie sich eventuell nicht einigen können, wo entlang der Golanhöhen sie verläuft), und Israel wird etwas nervös, wenn der Iran in Syrien militante Gruppen bewaffnet oder logistische Wege zur Hezbollah im Libanon ausbaut. Anfang April etwa griff Israel einen iranischen Drohnenstützpunkt in Tiyas an. (nzz.ch, nytimes.com)

Großbritannien will eigentlich nur wieder von den USA geliebt werden, also macht es bei den Angriffen mit. Macron möchte sich groß fühlen, also bombt er nicht nur mit, sondern erzählt auch große Geschichten davon, wie er Trump beraten und überzeugt hat – die er später teilweise wieder kassieren muss.

Die Türkei war eigentlich früher Assads Gegner und wollte ihn stürzen sehen, doch inzwischen, so scheint es, finden sie sich mit ihm ab und hoffen sogar auf seine Hilfe bei der Eindämmung kurdischer Kämpfer in der türkisch-syrischen Grenzregion.

Einer der Player, die in diesem großen Sandkasten mit Menschen und Raketen nicht mitspielen, ist Deutschland. Man könnte meinen, die Bundeswehr sei heute sowieso nur mit Schwangerschaftshosen und Gender-Problemen beschäftigt, doch tatsächlich wird sie derzeit unter anderem im Kosovo, im Irak oder natürlich in Mali eingesetzt, und da ist das verfügbare Human- und Waffenmaterial weitgehend ausgelastet. Doch, selbst wenn die Bundeswehr ausreichend lange Unterhosen und Panzer zur Verfügung hätte, um neue Einsatzgebiete zu erschließen, so ist die Bundesrepublik viel zu sehr damit beschäftigt, die Welt nach Deutschland umzusiedeln, als dass man Zeit und Motivation übrig hätte, auch noch mit den notwendigen Waffen und Soldaten zumindest einige der Ursachen dieser Migrationswünsche zu beheben. (Man muss ja nicht am Krieg teilnehmen, um daran zu verdienen – fragen Sie etwa jene CDU- und SPD-Politiker, die sich mit Vermietung an Flüchtlinge ein goldiges Näschen verdienen.)

So viel habe ich verstanden. Es ist nicht viel, aber es ist ein Anfang. Hier und da könnte etwas falsch sein. – Man muss sich ja aus den emotionalen PR-Meldungen die Krumen von Informationen zusammensuchen.

Zweifel

Es sind nur wenige Wörter, aber sie fielen mir auf. Bei welt.de wird am 16.4.2018 nüchtern festgestellt: »Als Reaktion auf den mutmaßlichen Giftgaseinsatz in der syrischen Stadt Duma hatten Frankreich, die USA und Großbritannien in der Nacht auf Samstag gut hundert Raketen auf syrische Stellungen abgefeuert.«

An diesem Zitat fiel mir besonders die Verbindung des Wörtchens »mutmaßlich« mit der Faktizität des Abgefeuerten auf. Früher brauchte es noch Beweise, selbst wenn sie falsch waren. Immerhin tat man so, als hätte man welche. Im Fall von Syrien wird auf einen mutmaßlichen Angriff mit ganz und gar nicht mutmaßlichen Angriffen reagiert. Allerdings verwenden nicht alle Journalisten das Wörtchen »mutmaßlich«. Andere sehen »handfeste Beweise« (haben aber gerade keine Zeit, sie zu listen) oder versteigen sich gleich in Verschwörungstheorien, wenn sie etwa in jedem einzelnen Abweichler, der die vorgegebene Linie auch nur als Advocatus Diaboli hinterfragt, einen Kreml-Putin-Troll sehen. (McCarthy lebt in manchen von uns weiter.)

Wer vorm zweiten Irak-Krieg vermutete, dass die Beweise für Saddams Massenvernichtungswaffen keine Beweise, sondern einigermaßen frei erfundene Geschichten waren, der galt als Verschwörungstheoretiker.

Wer vorm ersten Irak-Krieg zarte Zweifel an der Story von den Babys hatte, die angeblich aus Kuwaits Inkubatoren gestohlen wurden, der galt als Verschwörungstheoretiker.

Wer heute etwa fragt, welches Interesse eigentlich Assad daran haben sollte, einen Krieg, der eigentlich schon für ihn entschieden war, mit Giftgasattacken und der daraufhin möglichen Erwiderung doch noch zu verlieren, der gilt allein schon durch die Frage als Verschwörungstheoretiker, als »Russland-Troll« und »Kreml-Propagandist«. Es gibt ja durchaus Erklärungen, doch es ist bereits die Frage, vor der man Angst hat – man vergleiche hier etwa das Live-Interview des britischen Senders Sky News mit Ex-General Jonathan Shaw, das abrupt unterbrochen wird, als er nach Assads (un)möglicher Motivation fragt (siehe YouTube).

So wie Merkel zu hinterfragen als »Populismus« gilt, so gilt einigen Schreibtischkriegern jede Hinterfragung ihres Narrativs automatisch als »russische Propaganda« — wer sich Fragen stellt, wer sich eigene Gedanken macht, der kann nur ein russischer Agent sein.

Doch, so wie das Wüten und Schimpfen der Merkel-Fans und Deutschland-Hasser immer mehr Bürgern immer egaler wird, so verdrehen auch immer mehr Leute nur noch die Augen, wenn es heißt: »Wer das fragt, verbreitet Russen-Propaganda!«

Nein, es ist nicht rechtspopulistisch, seine Regierung zu kritisieren, sondern demokratisch. Nein, man wird nicht zum Propaganda-Opfer, wenn man kriegerische Handlungen hinterfragt – das Gegenteil ist der Fall: Es ist der Prototyp von Propaganda, kriegerische Handlungen als alternativlos und moralisch zwingend zu etablieren. Wer Kritik und kritische Rückfragen an Einsätzen gegen Assad verunglimpft, der ist genau darin Assad und Putin viel ähnlicher als er glaubt. In einer freiheitlichen, aufgeklärten Demokratie muss alles diskutiert werden, auch und ganz besonders der Krieg.

Syrienkrise, Medienkrise

Eine Frage lässt mich ganz besonders rätseln. Warum ist es eigentlich einigen Meinungsmachern so wichtig, was Sie und ich zu Syrien denken? Es macht für Trump keinen Unterschied, ob Frau Merkel das Handeln des Herrn Trump im Nachhinein nun gut oder schlecht oder ganz anders findet – ernsthaft mitkämpfen kann und wird Deutschland derzeit sowieso nicht. Und selbst wenn Trump auf Merkel hören würde, so hört Merkel nicht auf Sie und mich. Merkel handelt – zu oft – zum Schaden Deutschlands und gegen die Vernunft, und das TV verkauft es anschließend der Mehrheit der Zuschauer als moralisch zwingend. Was für einen Unterschied macht es also, was Sie und ich über den Krieg gegen Syrien denken? Warum wird in Deutschland so sehr Stimmung gemacht für einen Einsatz amerikanischer Waffen in Syrien, um dort mit Assad als Proxy ein Zeichen der Stärke gegenüber Russland zu setzen?

Die Syrien-Krise betont und verstärkt eine weitere Krise: Das Vertrauen in die Medien ist dermaßen erodiert, dass der gesunde Menschenverstand einem rät, erst einmal zu misstrauen, egal was sie sagen.

Ich hatte, via Twitter, einen Austausch mit dem von mir geschätzten Jochen Bittner von der Zeit.

An einem Punkt schrieb ich: »Das Problem, Herr Bittner, ist, dass einige von uns sich noch an die PowerPoint-Präsentationen von Powell (WMDs überall!!!) erinnern, an die Kuwait-Inkubator-FakeNews etc. – nicht alle haben ein so kurzes Gedächtnis wie Journalisten… ?«

Bittner zitierte meine Aussage und antwortete: »Glauben Sie nichts mehr, westliche Regierungen lügen, und Journalisten sind alle gleich. #Gift«

Er meinte es natürlich ironisch (vermute ich). In seinem Hashtag, also in der Kategorisierung dieser Aussage als »Gift« kann ich Bittner leider nicht einmal widersprechen.

Ich glaube natürlich nicht, dass alle westlichen Regierungen immer lügen – um Himmels willen! Und nein, nicht alle Journalisten sind gleich. Doch, ja, wenn es um ach so »humanistische« Begründungen für Krieg geht, misstraue ich zuerst einmal – und inzwischen misstraue ich selbst denen, auf deren Urteil ich in anderen Dingen einiges Gewicht lege. Ja, es ist ein Gift – ich stehe dazu, und ich leide darunter, dass ich in dieser Hinsicht vergiftet wurde.

Wir wurden zu oft angelogen. Die Meinungen zu vieler Journalisten sind zu oft auffallend identisch, auffallend oft kongruent mit den Interessen von Vereinen, derer Mitglied manche dieser Journalisten (oder ihre Chefs) sind, auffallend oft vollzieht der engagierte Journalismus den entscheidenden, fatalen Schritt zum offenen Pro-Kriegs-Aktivismus.

Eine große deutsche Tageszeitung berichtet schon seit Wochen kaum noch aus Syrien, sondern ist gefühlt in den Bereich der Angriffs-PR gewechselt. Wenn von einem der Beteiligten durchgehend als »Monster« und »Bestie« gesprochen wird, dann mag dies noch so gerechtfertigt sein – es ist auch mit Abstand nicht das, was man früher »Journalismus« nannte. Es mag moralisch richtig sein und es mag sogar sachlich richtig sein, es ist eben kein Bericht, auf dem ein rationaler Mensch seine Meinung basieren sollte.

Nichts, was ich höre, glaube ich einfach so – egal von welcher Seite es kommt. Die Schuld aber daran, dass ich es nicht weiß und nicht verstehe, gebe ich zuerst jenen, deren Aufgabe es wäre, mich davon wissen zu lassen. Ich sehe die einen, die dafür sind, und sich wie Marionetten aufführen, während sie allen anderen vorwerfen, Marionetten zu sein. Ich sehe die anderen, die dagegen sind, und bei diesen Individuen, seien es ZDF-Angestellte oder SPD-Politiker, war in der Vergangenheit zu vieles dessen, was sie sagten und taten, falsch in der Sache und falsch in der Moral. Wenn das ZDF sagt, dass die Sonne scheint, nehme ich zur Vorsicht den Regenschirm mit. Wenn die SPD sagt, dass die Brunnen vergiftet sind (oder denen applaudiert, die solchen Irrsinn behaupten), trinke ich ganz unbesorgt. Die Leute, die jetzt gegen Trumps Syrien-Einsatz wettern, haben in der Vergangenheit eher idiotenhaft geredet und gehandelt.

Was also passiert in Syrien? Je mehr ich erfahre, umso weniger weiß und verstehe ich. Wir bräuchten ein neues »West-Fernsehen«, das uns sagt, was wirklich passiert.

Weiterschreiben, Wegner!

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