Dushan-Wegner

23.06.2024

Wehe, du beschimpfst den Täter!

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten
Vergewaltiger spaziert frei aus dem Gericht – aber wer ihn für seine Taten beschimpft, geht in den Knast. Deutschland auf der Schwelle vom Rechtsstaat zur Dystopie – und auf jeden Fall ein Land in Schräglage.
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Wir können das Zusammenleben von Menschen als Spiel deuten. Ein funktionierendes Spiel aber braucht Schiedsrichter – oder kurz: Richter.

Wenn während des Spiels mal Zweifel darüber bestehen, wie die Spielregeln gerade anzuwenden sind, dann entscheiden die Richter genau darüber. Und Schiedsrichter entscheiden auch über gerechte Strafen für die, die sich nicht an die Spielregeln halten.

Mal eine gelbe Karte, mal eine rote – und mal lebenslang im Knast.

Dass es nicht funktioniert

In einem funktionierenden Spiel existieren immer vernünftige Regeln, und Schiedsrichter wachen darüber, dass das Spiel auch tatsächlich innerhalb dieser Regeln stattfindet.

Ohne Regeln wäre das Spiel kein solches, sondern ein sehr realer Überlebenskampf.

Wenn Zweifel über die Anwendung der Regeln bestehen, müssen Schiedsrichter spontan eine Regel-Interpretation festlegen. Und zwar derart, dass alle Spielteilnehmer auch ehrlich sagen können, dass dieses Spiel im Großen und Ganzen funktioniert.

Richter sollen Recht sprechen, und dieses Recht darf sich nicht für die Menschen tatsächlich wie Unrecht und damit ungerecht anfühlen, sonst funktioniert der Rechtsstaat in der Wahrnehmung der Menschen nicht – und ein Land wird zum Unrechtsstaat.

Etwas kaputt in Deutschland

Zuletzt »funktionierte« das Spiel in Deutschland nicht so richtig. Und dass das Spiel namens »Deutschland« nicht funktioniert, liegt im großen Deutschen-Spiel auch ganz konkret an den (Schieds-)Richtern.

bild.de vom 22. Juni 2024 titelt: »Neun Männer fielen über 15-Jährige her: Frau beleidigt Vergewaltiger und wird länger weggesperrt als er«.

Ein vorgeblicher Grund für diese Asymmetrie wird ironischerweise durch eine bestimmte Wortwahl verdeckt.

Im Artikel ist von »jungen Männern« die Rede. »Junge Männer« ist im deutschen Propagandastaat oft ein Code für eine ganz bestimmte Gruppe von Menschen. (Im vorliegenden Fall handelt es sich wohl um eine »gemischte« Gruppe, wobei mir über den deutschen Anteil der Gruppe keine näheren Informationen vorliegen.)

Wir lesen über diesen Fall: »Im Hamburger Stadtpark hatten neun junge Männer eine hilflose 15-Jährige stundenlang vergewaltigt. Bis auf einen der Täter wurden alle nur zu Bewährungsstrafen verurteilt, saßen keinen einzigen Tag in Haft.«

Die junge Frau, welche die Täter laut Urteil beleidigte, muss zwar »nur« ein Wochenende im Knast einsitzen, doch das Zeichen an die Bevölkerung könnte kaum eindeutiger sein: Schlimmer, als eine Frau zu vergewaltigen, ist für die deutsche Justiz, dem Vergewaltiger danach böse Worte zu sagen.

Schlägerei auf dem Platz

Wie wird ein Spiel verlaufen, in dem die Schiedsrichter so entscheiden, wie deutsche Richter bisweilen entscheiden?

Ein Fußballspiel, in welchem keine Regeln mehr gelten, ist kein Fußballspiel mehr. Es ist eine Schlägerei auf dem Platz.

Die »Regeln« eines Landes sind schlicht das geltende Recht. Was für ein Land ist das aber, in dem keine nachvollziehbaren, moralisch halbwegs stimmigen Regeln mehr gelten?

Wenn es in einem Fußballspiel nicht bestraft würde, dem Gegner den Schädel einzutreten, aber das Schimpfen darüber eine rote Karte und zehn Spiele Sperre nach sich zöge, wäre dieses Spiel schlicht kaputt – und nicht wirklich ein Spiel.

Aktuell laufen laut Medienberichten hundertvierzig weitere Verfahren wegen Beleidigungen, allesamt Beleidigungen, die gegen die armen, schützenswerten Vergewaltiger gerichtet waren. Mir fällt dafür nur das Wort »dystopisch« ein.

Es ist eine Eigenschaft von Dystopien, nach der ersten Aufregung recht schnell langweilig zu werden. Ich hörte zur Beschreibung unserer Zeit mal das englische Schlagwort »boring dystopia«, die »langweilige Dystopie«.

Wir rümpfen die moralische Nase über Kulturen, in denen die vergewaltigte Frau als Ehebrecherin verurteilt und bestraft wird. Bald läuft in Deutschland der Vergewaltiger frei herum, während sein Opfer im Gefängnis sitzt, weil es den Vergewaltiger für seine Tat verfluchte.

»In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht«, so schrieb Kurt Tucholsky ins deutsche Poesiealbum. – Es ist also nur konsequent, wenn ebenfalls gilt: In Deutschland wird der, der über den Täter schimpft, härter bestraft als der Täter.

Ein Land, in dem die Vergewaltiger frei herumlaufen, aber diejenigen, welche auf die Vergewaltiger schimpfen, im Knast sitzen, gleitet vom Rechtsstaat zur Dystopie, vor unseren Augen.

Nicht erst verstellen

Habe ich »vor unseren Augen« gesagt? Ach, die meisten Betroffenen wie auch Mittäter des Übergangs zur Dystopie verschließen nicht einmal die Augen.

Schaut euch doch eure Nachbarn, eure Familienmitglieder an! Zu viele Bürger haben die Augen weit geöffnet – oder glauben es zumindest –, doch die Rezeptoren für den relevanten Teil der Realität sind tot, taub, abgestorben.

Der tatsächlich Blinde, der aus weit aufgerissenen, aber toten Augen in die Welt starrt und doch nur Dunkelheit sieht, weiß ja, dass er blind ist. Der metaphorische Blinde aber hält sich oft genug für sehend, und das, was der Sehende sieht, tut er als Wahn und Verschwörungstheorie ab.

Reparieren – dringend!

Der Mensch ist unvollkommen. Unvollkommen am Körper und unvollkommen am Geist. Unsere Unvollkommenheit trägt die Schuld daran, dass wir von schlechten Schiedsrichtern zu einem ganz anderen Spiel geführt werden.

Der Staat und die Welt werden vor unseren Augen andere.

Öffnet eure Augen und seht! Und wenn ihr nicht sehen könnt, dann lasst eure Augen reparieren – dringend!

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