Dushan-Wegner

02.12.2017

Wahrheit als Fackel, Verstand als Mistgabel

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild von Fabrizio Verrecchia
Den gesunden Menschenverstand einzusetzen ist heute ein revolutionärer Akt. Argumente sind die neuen Mistgabeln. Lasst sie uns schärfen!
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Es gibt dieses Bild der politischen Revolution: Bauern ziehen los mit Fackeln und Mistgabeln, den tyrannischen Feldherrn zu stürzen. Die Revolution, bestritten mit den Werkzeugen, mit denen man den Mist umschichtet und den Stall ausleuchtet.

Auch heute ist wieder mancher Stall auszuleuchten und mancher Mist umzuschichten. Die Revolution hat längst begonnen, eine Revolution der frechen Fragen und des selbstständigen, logischen Denkens!

Selbstverständlich stehen Fackel und Mistgabel hier als Sinnbilder für ein neues, altes Werkzeug: den »guten alten« gesunden Menschenverstand. Die Mächtigen haben sich eingerichtet hinter Mauern mit Türmen und Wachen, und sie fahren umher in gepanzerten Kutschen. Früher verboten die Pfarrer dem Volk, die Bibel zu lesen. Die Wahrheit sei nur den Eingeweihten zuzumuten. Das Volk hielten sie mit Angst und Schuld auf Abstand. Heute wollen sie dem Volk verbieten, vor seine eigene Tür zu sehen oder gar die Statistiken selbst zu lesen. Uns, das Volk, wollen sie mit Empörung und Dreigroschenmoral auf Abstand halten.

Unsere Mistgabel soll der einfache Menschenverstand sein. Doch – seien wir ehrlich! – wissen wir denn noch, wie eine Mistgabel zu halten ist? Wer von uns wüsste, wie man eine Fackel anzündet?

Der gesunde Menschenverstand

Mit dem Begriff »der gesunde Menschenverstand« verhält es sich wie mit der Liebe oder dem Wiener Schnitzel: Richtig gemacht eine wunderbare, erleuchtende Sache – doch wehe, wenn es für ein paar Schillinge an Touristen verhökert wird!

Wir sind keine Touristen, sondern wollen uns den Verstand nach Hause holen, wollen ihn verstehen, ja, sogar den gesunden Menschenverstand zu unserem Hausfreund machen! (Nur an die Liebe sollte man Hausfreunde bekanntlich nicht lassen und auch ans Schnitzelbacken nur mit Aufsicht.)

Wie paniert man nun den Verstand derart, dass er uns zum so menschlichen wie gesunden Freund wird?

Was nicht sein darf

Viele Vertreter des »Homo Sapiens« fühlen sich berufen, den »gesunden Menschenverstand« für sich zu beanspruchen. Doch, wir wollen uns gleich zu Beginn unseres Mistgabeltrainings der wohl häufigsten Fehlapplikation dieses Begriffs »Gesunder Menschenverstand« entledigen: Der gesunde Menschenverstand ist nicht die Summe meiner Vorurteile, er ist nicht, »was mir gerade so einfällt«, und ganz bestimmt ist er nicht, was mir als Realität und Logik anstrengungsfrei zusagen würde.

Was sein sollte

Es gilt, wenig Zeit zu verlieren, auch die Liebe darf nicht anbrennen, also lassen Sie uns ohne weitere Umschweife das Schnitzel aus der Pfanne heben! Hier ist mein Vorschlag für einen »zugespitzten« und »entflammten« Begriff vom gesunden Menschenverstand:

  1. Der gesunde Menschenverstand sollte ein ständiges Bemühen sein, die eigene Realitätswahrnehmung und Logik an die tatsächlichen Fakten und an logische Gültigkeit anzupassen.
  2. Der gesunde Menschenverstand prüft für alles, was er als wahr annimmt, ob seine Annahme gute Gründe hat.
  3. Der gesunde Menschenverstand hält an keinem Glauben fest, wenn gute Gründe dagegen sprechen.
  4. Der gesunde Menschenverstand hält sich an die üblichen Regeln vom logischen Schließen und prüft sich selbst, um zumindest die bekannten Fehlschlüsse zu vermeiden.
  5. Der gesunde Menschenverstand hält nie etwas für wahr oder logisch, bloß weil er selbst es gesagt hat.

Der geübte Argumentierer wird schnell erkennen, dass ich hier beim Wesentlichen die definitorische Last von »gesunder Menschenverstand« auf »gute Gründe« verschoben habe. Das ist kein Versehen und kein Ausweichen – das ist nützliche Methode!

Gib Gründe!

Die Frage nach dem »gesunden Menschenverstand« ist – vor allem – die Frage nach den Gründen, die ich für meine Annahme habe – aber auch die Frage, wie ich mit Gründen umgehe, die gegen meine Annahmen sprechen!

Anders als die Frage danach, wie wir »gesunder Menschenverstand« verstehen, kann die Frage nach den guten Gründen nicht mal provisorisch abschließend beantwortet werden. Die Arbeit am Denken ist wie Sport: Wer nicht täglich trainiert, wird fett und träge.

Die fortwährende Prüfung der eigenen Annahmen ist keine Garantie, niemals einem Irrtum zu unterliegen – sie ist aber die beste Absicherung, die man haben kann. Wer seine Annahmen prüft, der kann auch mal falsch liegen – wer sich dagegen auf Bauchgefühl oder Autoritäten verlässt, der wird mit hoher Wahrscheinlichkeit oft und unter Umständen sein Leben lang in die falsche Richtung laufen. (In meinem Buch »Relevante Strukturen« entwerfe ich übrigens ein Ethik-Modell, das einer Prüfung durch den gesunden Menschenverstand standhalten soll! mehr Info / jetzt kaufen)

Einige gute Gründe

dafür…

Zählen wir doch einige gute Gründe auf, die für die Richtigkeit einer Annahme sprechen könnten:

  • Ich habe es selbst gesehen.
  • Viele Menschen, deren Urteil ich vertraue, haben es gesehen.
  • Es wurde von neutralen Wissenschaftlern aufgestellt und ist durch ernsthafte Überprüfungen gegangen.
  • Es hat in der Vergangenheit zu Erfolgen geführt.

Diese kurze Liste von Gründen habe ich »ad hoc« notiert. Wir müssen in der Verstandespraxis unsere Gründe immer wieder neu aufstellen und dauernd prüfen. Selbst im unwahrscheinlichen Fall, dass alle unsere Gründe jetzt gut und nicht mehr verbesserungswürdig wären, so ist es doch möglich und wahrscheinlich, dass die Zuverlässigkeit einzelner »guter Gründe« sich über die Zeit ändert und neu justiert werden muss.

Und dagegen!

Es genügt nicht, gute Gründe für seine Annahmen zu haben – man muss auch prüfen, was dagegen sprechen könnte.

Etwa:

  • Widerspricht sich das, was ich sehe und das, was ich annehme?
  • Habe ich vielleicht einem »Experten« geglaubt, der autoritativ auftrat (z.B. TV-Sprecher im Anzug) – aber keine Belege lieferte?
  • Begehe ich eventuell einen der üblichen logischen Fehlschlüsse?

(Ich plane, in kommenden Blogposts einige dieser Fehlschlüsse zu beschreiben und mit Beispielen zu untermalen – abonnieren Sie die automatische E-Mail-Benachrichtigung!)

Schon die Frage!

Bereits die Frage nach den Gründen unserer Annahmen verbessert die Qualität unseres Denkens um ein Vielfaches.

Wenn jemand sagt, man möge den »gesunden Menschenverstand« einsetzen, sagen wir: »Gern! Lassen Sie uns Ihre und meine Annahmen auf Gründe abklopfen! Und lassen Sie uns ehrlich prüfen, welche Gegengründe unsere Annahmen widerlegen könnten!«

Die Wahrheit leuchte uns als Fackel, der gesunde Menschenverstand sei unsere Mistgabel! Entzündet die Fackeln, schärft die Mistgabeln – einen guten Grund nach dem anderen.

Weiterschreiben, Wegner!

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