Dushan-Wegner

23.04.2018

Nur Sekten setzen das Gefühl über den Verstand

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild von Francis Taylor
Politik kommt gelegentlich wie ein Kult daher (»Sie kennen mich«), dem man blind vertrauen soll – bis zum bitteren Horizont. Was bewegt Menschen, sich so einem Kult anzuschließen?
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Jede einzelne der Frauen musste sich nackt ausziehen und auf einen Massagetisch legen. Jeweils drei andere Frauen fixierten ihre Beine und Schultern. Laut dem Bericht einer von ihnen, wurden sie angewiesen, zu sagen: »Meister, bitte brandmarke mich, es wäre eine Ehre.« – Eine Ärztin nahm ein Brenneisen und brannte ein etwa fünf Zentimeter langes Brandmal in die Hüfte jeder Frau. Die Prozedur dauerte etwa zwanzig bis dreißig Minuten. Für Stunden war der Raum gefüllt mit unterdrückten Schreien und dem Geruch brennenden Gewebes.

Habe ich Ihre Aufmerksamkeit?

Der Einstieg dieses Textes mag wie die billige Horror-Variante des Kubrick-Filmes »Eyes Wide Shut« klingen, doch es ist nicht ausgedacht. Diese verstörende Szene wird so im Artikel »Inside a Secretive Group Where Women Are Branded« in der New York Times vom 17. Oktober 2017 beschrieben.

Die Szene beschreibt das Aufnahmeritual zu einer »Schwesternschaft«, die laut dem Bericht mit einem Herrn Keith Raniere verbunden zu sein scheint. Was da passiert, erinnert an eine Sekte oder einen Kult. Man hatte die jungen Damen überzeugt, dass es sie »empoweren« würde, sich zu »Sklavinnen« zu erklären und einem »Meister« hinzugeben. Es hat etwas von einer verrückten Kreuzung aus Pussyhat-Feminismus und Fifty-Shades-of-Grey, nur eben für extra reiche Damen. (Es waren viele Schauspielerinnen darunter, so scheint es, wenn man den Bericht in Vice liest – denken Sie daran, wenn das nächste Mal ein Schauspieler Ihnen die Welt erklärt oder Ihnen Wahlempfehlungen gibt.)

Auf YouTube finden sich Videos des Herrn Raniere, wie er mit Schlafzimmerblick (hinter dicker Brille), sanfter Stimme und reichlich Handgesten esoterischen Bullshit von sich gibt. Es sind die Versatzstücke dessen, was postreligiöse Seelen mit mehr Geld als Verstand so hören möchten.

Keith Raniere wurde Ende März 2018 verhaftet. Ende April 2018 wurde dann Allison Mack verhaftet. Der Schauspielerin werden Menschenhandel (»sex trafficking«) und andere Nettigkeiten im Kontext jener speziellen Gruppe vorgeworfen. Es heißt, dass nach der Verhaftung Raniers die Schauspielerin zur neuen Leiterin der Gruppe aufgestiegen war. – Schmankerl für Leute, die rote Fäden über Pinnwände spannen: Man könnte Macks Tweet vom 23. Januar 2018 (@allisonmack / archive.is) so deuten, dass Mack zumindest etwas Sympathie hegt für die Künstlerin Marina Abramović, also der Dame mit dem »Spirit Cooking«.

Ich habe einmal einen Tee getrunken, der duftete würzig und nach ferner Welt. Er sollte meine Seele streicheln, und es gelang ihm. Mit einem Schluck Milch und etwas Honig war er vollkommen. Er machte wach und war doch koffeinfrei. – Dann las ich dieses Zettelchen, was an Teebeuteln dranhängt. Dieser Tee fühlte sich bemüßigt, mir Ratschläge fürs Leben auf den Weg zu geben. Der Ratschlag des Tees war: »Folge deiner Intuition!«

Das ist aber ein mieser Rat, dachte ich. Ich lebte zu der Zeit in der Kölner Innenstadt und hatte eine Reihe von Bekannten, die »ihrer Intuition folgten« – und mit »ihrer Intuition folgen« meinen wir: Das, was sich »richtig anfühlte«, ohne groß nachzudenken in die Tat umsetzten. Sie zerstörten Familien – die eigene und andere. Sie verbauten sich Chancen im Leben, wenn es sich »intuitiv richtig« anfühlte, ihr Studium aufzugeben und »sich zu finden«. Ich kenne keinen schlechteren Rat, als den, zuerst seinen Gefühlen zu folgen.

Nicht nur der aufrechte Gang des Menschen, die Behaarung und der Sprachapparat sind Ergebnis der Evolution. Die Seele hat sich ebenso entwickelt, und im Laufe ihrer Entwicklung hat sie Schichten und Sedimentlagen gebildet wie ein altes Gebirge. Das emotionale Kostüm des Menschen ist nicht so recht für das Stadtleben vorbereitet. Die Evolution hat uns darauf hin optimiert, in der Steppe zu leben, Büffel zu jagen und uns vor Tigern zu hüten. Was danach kam, das passierte so schnell, dass die Evolution keine Zeit hatte, uns anzupassen. (Bis vor kurzem dachte ich, dass Zivilisation, Krankenhäuser und Sozialsysteme weitere Evolution verhindern würden, doch mit der neuen Gewalt in den Straßen wird Darwin wieder aktuell. Wer sich gegen »junge Männer« wehren kann, hat bessere Überlebens- und Fortpflanzungschancen.)

Der Mensch, dieses »Mängelwesen«, kann in der Stadt leben, weil er Verstand hat, und mit diesem Verstand kann er seine emotionalen und sonstigen Mängel mehr als ausgleichen – wenn er es denn tut!

Seinen Verstand zu gebrauchen ist anstrengend – seine Entscheidungen auf Emotion und Intuition zu basieren fällt dagegen leicht. Es gibt keinen logischen Grund, warum emotionsbasierte Entscheidungen »besser« sein sollten. Der einzige »Vorteil« des Teebeutel-Spruches liegt darin, dass er Faulheit legitimiert. »Folge deiner Intuition« ist eine in Esoterik-Sprache (»Intuition«) verkleidete Legitimation, denkfaul zu sein.

Ich halte solchen Rat für gefährlich, wenn nicht sogar für bösartig.

Der Mensch braucht Verstand und Gefühl. Der Mensch ohne Gefühl und Empathie ist ein Psychopath, der Mensch ohne Verstand ähnelt bald dem Tier – auch wenn er nicht immer, wie in der New Yorker Gruppe, buchstäblich wie Vieh gebrandmarkt wird.

Man könnte meinen, nur einsame Seelen, vorwiegend aus sozial schwachen Schichten, seien für solche Manipulation anfällig, doch es wäre falsch.

Zu den Financiers und Jüngerinnen des erwähnten Herrn Raniere gehört etwa eine amerikanische Milliarden-Erbin. Zu den Kunden seiner Coaching-Firma »NXIVM« (ausgesprochen »Nexium«) gehören eine Reihe von Menschen mit siebenstelligem Kontostand, wohl mindestens ein weiterer mit achtstelligem, und wie zu erwarten auch einige Politiker und Konzern-Vorstände. Einfache emotionale Wahrheiten verkaufen sich gut. Nein, nicht alle von Ranieres Kunden haben mit dem Sex-Kult zu tun, die meisten (hoffe ich) wussten nicht einmal davon.

Doch, denken wir kurz darüber nach, was die Frauen, die zu seinen Seminaren kamen, erwarteten.

Eine Teilnehmerin berichtet, dass sie davon ausging, einer weiblichen Version der Freimaurer beizutreten, einer guten Kraft, die die Welt zum Besseren verändern würde. (siehe vice.com vom 3.11.2017)

Bedenken wurden offensiv ausgeräumt und als persönliche Probleme dargestellt – das Gebrauchen des Verstands als emotionaler Fehler. Sekten diskreditieren den Verstand, der die Lehre der Sekte hinterfragt, als Phobie. Jene Teilnehmerin vergleicht den Vorgang mit dem Frosch im kochenden Wasser. Schritt für Schritt wurden kompromittierende Informationen oder Daten abgepresst, als Pfand, um ihre Verpflichtung der Sache gegenüber zu garantieren.

Die Frauen schlossen sich an, weil sie fühlten, dass sie sich so »selbst entwickeln« könnten, dass sie in dieser Gruppe neue Stärke finden würden, und weil sie fühlten, dass sie gemeinsam die Welt verbessern würden. Wie konkret die Gruppe das bewerkstelligen wollte, das hätten sie nicht sagen können, denn sie wussten ja praktisch nichts darüber.

Wie gelangt ein Mensch von diesem Anfangsgefühl hin zu einem Punkt, an dem er erklärt, jemandem als Sklave dienen zu wollen und sich buchstäblich brandmarken zu lassen? Die Antwort: In vielen kleinen, emotionalen Schritten. Jeder einzelne Schritt scheint »intuitiv richtig« – der Verstand hat Pause, und wird erst dann wieder eingeschaltet, wenn das Gefühl plötzlich ganz und gar nicht mehr angetan ist. Diese Menschen hatten so viel preisgegeben, so viel in die Waagschale gelegt, dass sie an einem Zeitpunkt das Gefühl hatten, nun läge die Verantwortung nicht mehr bei ihnen, nun müssten sie nur noch ausführen und dann würde alles gut. Sie werden gut, die Erde wird gut, alles wird gut.

Nichts wurde gut. Diejenigen, denen sie mit Intuition und Gefühl vertrauten, sitzen im Gefängnis. Sie selbst haben ein Brandmal an der Hüfte, für immer. Folge deiner Intuition, doch wenn du zu faul bist, den Verstand einzusetzen, wird es teuer werden. Du kannst nicht die Verantwortung für dein Handeln abgeben, du bist auch dann verantwortlich, wenn du den Verstand abgibst und deiner Intuition folgst.

Du solltest sowieso vorsichtig damit sein, wem du vertraust, doch wenn jemand dich auffordert, deiner Intuition zu folgen – und das Denken ihm zu überlassen – vertraue ihm auf keinen Fall. Nur Sekten setzen Intuition und angebliche Moral über den Verstand und den natürlichen Überlebenswillen. Wer Gehorsam will, Gehorsam bis zur Brandmarkung und, in anderen Fällen, bis zum Tod, der muss kritische Gedanken verhindern, sei es als »Häresie«, »Hassrede«, »Unglaube«, »Populismus« oder »negative Vibes«.

Politiker, die mit »Sie kennen mich« oder »wählt mich, ich bin eine Frau« argumentieren, statt mit »Ich werde schützen, was uns gemeinsam wichtig ist, und hier ist mein Plan dafür«, appellieren ans Gefühl statt an den Verstand. Sie sind gefährlich und die Folgen ihres Handelns sind verheerend. Politiker, die Künstler statt Argumente präsentieren, sind gefährlich. Wer an Intuition und Gefühl appelliert, der will manipulieren und es endet nie gut. Es ist so viel mühsamer, die kritischen Fakultäten der Wähler zu aktivieren, gerade in der Zeit von Smartphones, Facebook und öffentlich rechtlicher Verblödung, aber es ist so viel edler, so viel konstruktiver. – Und, im Gegenzug: Wähler, die sich zuerst auf ihre »Intuition« verlassen, die zu faul sind, den Verstand zu gebrauchen und auch das Unangenehme zu prüfen, die gefährden sich selbst, und via Wahlergebnis auch ihre Mitmenschen.

Mein Rat braucht einen doppelt großen Tee-Zettel: Höre auf deine Intuition – aber handle danach, was dein Verstand dir sagt!

Weiterschreiben, Wegner!

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