Dushan-Wegner

20.05.2022

Heimat

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten
»Heimat ist der Ort, wo man weiß, wer ich bin, ohne dass ich mich erklären muss. Ja, Heimat ist ein Ort, an dem ich selbst weiß, wer ich bin, und mich nicht täglich hinterfragen muss.«
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Dies ist ein Vorab-Auszug aus meinem nächsten Buch! Im Video bei YouTube zu diesem Kapitel korrigiere ich diesen Abschnitt »live«. Es ist quasi ein Einblick in meine Schreibwerkstatt. Bin sehr auf Feedback gespannt!

Die Heimat des Fisches ist das Wasser, sei es das Wasser des Sees, das Wasser des Flusses oder das Wasser des Meeres.

Wenn man sich jedoch mit dem Fisch unterhalten könnte, dann wäre er kaum in der Lage, zu erklären, was dieses Wasser eigentlich ist! Ja, er wüsste wahrscheinlich nicht einmal, wovon wir reden!

Der Fisch könnte uns das Wasser kaum beschreiben, selbst wenn er die Menschensprache beherrschte. Das Wasser ist für ihn alles, er nimmt es kaum wahr. Und doch ist das Wasser die Heimat des Fisches, die ganz selbstverständliche Heimat.

Die Heimat ist dem Menschen so selbstverständlich wie dem Fisch das Wasser – bis wir aus der Heimat herausgerissen werden.

Die Heimat könnte uns so selbstverständlich erscheinen, dass wir sie gar nicht bemerken – und dann werden wir auf einmal aus der Heimat entnommen und wir schnappen nach Luft.

Soll der Mensch also mit aller Kraft an seiner Heimat festhalten? Darf der Mensch seine Heimat loslassen, zur Probe vielleicht, wenn die Umstände es notwendig machen?

Anders als der Fisch stirbt der aus dem Wasser entnommene Mensch nicht sofort – hier endet die Ähnlichkeit.

Ja, der Mensch kann seiner Heimat entnommen werden, und er überlebt. Aber es ist schmerzhaft, und man sagt, dass etwas von ihm in der ersten Heimat bleibt.

Die Heimat zumindest in Gedanken loszulassen, kann uns aber helfen, eben diese vermeintliche Selbstverständlichkeit aufs Neue schätzen zu lernen.

Das Loslassen der Heimat kann in verschiedenen Formen stattfinden. Dieses Loslassen kann in Stufen geschehen, und es kann sogar die Richtung wechseln. Man kann es sich »nochmal überlegen«.

Ich habe gelernt, dass wer einmal seine Heimat loslässt, für immer ein Wanderer bleiben wird. Und ich habe mehr als einmal gehört, dass Menschen zuletzt aus der Fremde wieder in ihre erste Heimat zurückkehrten, um ihr Leben dort abzuschließen, wo sie es begannen. Manche lassen zumindest ihre sterblichen Überreste in der Heimaterde begraben. Die erste Heimat soll auch die letzte sein, denn sie war wohl die ganze Zeit über die einzige Heimat.

Die Heimat loszulassen fühlt sich an, bildlich gesprochen, als würde man einen Teil seines eigenen Körpers herausschneiden.

Heimat ist der Ort und Kontext, wo man mich als Teil und Angehörigen betrachtet, wo ich mich selbst als Teil und Angehöriger fühle. Der übliche Grund für dieses Gefühl ist natürlich, dass der Mensch in diesen Kontext hineingeboren wurde, dass er in den Kontext seiner Heimat hineingewachsen ist, manche sagen sogar: dass wir mit unserer Heimat verwachsen sind und immer bleiben werden.

Heimat ist der Ort, an dem ich nicht immerzu prüfen muss, was richtig ist und was falsch, weil dieses Wissen dort ein Teil meiner Natur ist.

Heimat ist der Ort, wo man weiß, wer ich bin, ohne dass ich mich erklären muss. Ja, Heimat ist ein Ort, an dem ich selbst weiß, wer ich bin, und mich nicht täglich hinterfragen muss.

Jedoch, die Idee »Heimat« ist nicht ohne Fallstricke. Die Gefahr an der Idee »Heimat« ist identisch mit einigen der Eigenschaften, welche in uns die Sehnsucht nach Heimat wecken.

Heimat spart die Notwendigkeit, sich zu erklären, das ist wahr. Heimat erspart ebenso die Notwendigkeit, sich bei immer neuen Mitmenschen um Freundschaft bewerben zu müssen.

Ich bin Teil meiner Heimat, ohne mich anstrengen zu müssen, und diese Leichtigkeit ist ganz wesentlich mit der schönen Idee »Heimat« verbunden.

Heimat ist also der Ort, an dem ich mich nicht immerzu überprüfen muss, mich nicht jede Sekunde zu einem neuen, anderen Menschen weiterentwickeln muss, und wenn wir es so formulieren, hören wir bereits das Problem heraus.

Die Heimat könnte uns ersparen, immerzu neue Fähigkeiten erlernen und innerlich wachsen zu müssen. Das ist angenehm, ja, und es kann uns träge werden lassen.

Wer aus der Heimat fortzieht, wird sich in der Fremde gegenüber Fremden erklären müssen. Das ist anstrengend, das kann schmerzhaft sein und das restliche Leben prägen. Wer aber würde bestreiten, dass dieser Prüfstand den Menschen wachsen lässt?

Es mag schmerzhaft sein, die Heimat samt Freunden loszulassen und sich um neue Freundschaften zu bewerben, doch es ist eine der schnellsten und direktesten Methoden, sich selbst neu zu erschaffen.

Mancher, der die Heimat losgelassen hatte, kehrte später zurück, und er entdeckte auch sie neu. Wir kennen es ja von Filmen, von der Heldenreise, wenn der Protagonist in die Welt aufbricht, um dort festzustellen, dass das Glück die ganze Zeit in seiner ersten Heimat auf ihn gewartet hatte – er musste es nur neu zu sehen lernen.

Die Heimat ist ein Netz von Zusammenhängen, und meine Seele ist mit diesem Netz an vielen, vielen Knoten verknüpft.

Wie tief würdest du fallen, wenn du aus dem Netz namens »Heimat« herausgeschnitten würdest? Gäbe es zweites Netz, ein Ersatznetz, in das du fallen kannst?

Wir sollten es prüfen. Wir sollten es in Gedanken durchgehen, theoretisch und ungefährlich. Sollte es einmal real zur Notwendigkeit werden, die Heimat loszulassen, für eine Zeit oder für immer, dann werden wir eher darauf vorbereitet sein, was uns erwartet.

Lasse die Heimat los, und sei es nur in Gedanken, nur zur Probe, um eben diese Heimat neu schätzen zu lernen.

Wenn du mutig genug bist und etwas wagen willst, lass die Heimat auch ganz konkret los, und erfinde dich an einem anderen Ort neu. Brenne aber nicht die Brücken hinter dir ab, wenn du gehst. Du weißt nicht, ob dir dein Neuerschaffen am neuen Ort gelingen wird.

Ja, es ist sicherer, und wohl auch klüger, die Heimat nur in Gedanken loszulassen, und dann gleich wieder zurückzukehren, aufs Neue dankbar, dass man diese Heimat hat, mit all ihren Runzeln und Kanten.

Lasse deine Heimat los und dich gleich mit. Und dann ergreife und erschaffe beides neu, dich selbst, wie auch die Heimat um dich herum.

Weitermachen, Wegner!

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