Dushan-Wegner

07.04.2020

Familien, Generationen und das Virus

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Foto von Alex Boyd
Warum hat Deutschland weniger Virus-Tote? – These: Aktives Familienleben trägt zur Virus-Mortalität bei (vrgl. Spanien, Italien). Deutsche Großeltern wurden schon vorher oft isoliert, unterstützt von Hass-Propaganda (»alte weiße Männer«, »Oma Umweltsau«).
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In den Zeiten der Pandemie können uns Dinge nervös werden lassen, die wir zuvor nicht einmal registriert hätten. Heute morgen verschluckte ich mich am Toastbrot. Ich musste husten, und meine Familie betrachtete mich, den Hustenden, gespannt schweigend, und in den liebevoll besorgten Blicken meinte ich die Frage zu lesen, welches Furnier mein Sarg haben sollte.

Ich hustete mein Toastbrot schließlich hoch, meine Kinder, als sie sahen, dass ich noch lebte, brachen das Ausräumen meines Arbeitszimmers ab. Später werden wir dann mit meinen Eltern videotelefonieren, wo die sich aus sicherer Entfernung über ihre Enkel freuen werden, so gut das über Computer-Videochat eben geht.

Wenn ich mir nicht gerade darüber Gedanken mache, ob das Verhusten am Toastbrot nur eben das ist (ja, war es), und nicht gleich mein Ende, dann denke ich über andere, nicht minder aktuelle Fragen nach: Warum sterben so wenige Deutsche am Corona-Virus, verglichen mit anderen Nationen?

(M)eine These

Weltweit infizieren sich Menschen heute mit dem Coronavirus. (Es gibt auch »geographische Einheiten« ohne Infektionen bislang – nicht dass jemand noch auf Besuchspläne kommt!)

Während sich in allen Weltteilen viele Menschen infizieren, zumindest am Anfang oft exponentiell wachsend, scheinen in Deutschland auffällig wenige Menschen zu sterben oder überhaupt erst auf Intensivstationen eingeliefert zu werden.

»Gemessen an der Gesamtzahl der registrierten Coronavirus-Infektionen ist die Zahl der Toten in Deutschland relativ gering«, konstatiert etwa welt.de, 24.3.2020.

Liegt es wirklich daran, dass es in Deutschland »besser läuft«? Nun, die Berichte, die mich und andere »von der Front« erreichen, widersprechen der Regierungswahrheit man sei »vorbereitet«. (Vergleiche etwa meine Essays vom 20.3.2020 und 23.3.2020, oder etwa achgut.com, 7.4.2020).

Liegt es an der angeblichen Feinstaubbelastung in den betroffenen Gegenden? Liegt es an bestimmten Migrationsströmen? Liegt es an der Zahl von Intensivstationen?

Eine Pandemie ist, wie so vieles andere im Leben, gewiss multikausal, hat also mehr als eine Ursache, und ich würde niemandem vertrauen, der schon jetzt nur eine Ursache zu benennen weiß. (Mancher echte Experte zeichnet sich heute dadurch aus, dass er sehr vorsichtig bezüglich Erklärungen und Vorhersagen ist.)

Ich habe wenig Zweifel, dass die gute medizinische Versorgung in Deutschland dazu beiträgt, dass wenige(r) Menschen sterben als anderswo. Nicht zu unterschätzen ist auch die in Gesundheits-Dingen definitiv keineswegs nur schlechte »Gratis-Mentalität« der Deutschen: Wer in Deutschland krank wird, der macht sich, außer vielleicht bei Zähnen, meist nicht zuerst um die Rechnung Sorgen, sondern, wie es sich gehört, um seine Gesundheit – und also versucht er, Hilfe zu erhalten, während man in den USA nur wegen eines Hustens nicht sofort zum teuren Arzt gehen könnte.

Ja, ich weiß, dass Tests fehlen oder (für die Kassen/Krankenhäuser) teuer sind, dass Masken und Schutzkleidung fehlen (während Peinlichminister Maas sie an Israelhasser verschenkt, siehe @AuswaertigesAmt, 6.4.2020) – und doch sterben weniger Menschen in Deutschland.

Ich biete eine These an, warum statistisch weniger Deutsche am Coronavirus sterben – und sie ist für uns wenig schmeichelhaft.

Nur Anekdoten! Nur Anekdoten?

»Nur die Paranoiden überleben«, so besagt eine alte Unternehmer-Weisheit. – Erlauben Sie mir bitte, in ähnlichem bitter-realistischem Geiste eine These dafür vorzulegen, warum es in Deutschland weniger COVID-19-Tote gibt als anderswo – und diese These wird, trotz des eigentlich erfreulichen Ergebnisses, in ihrer Prämisse wenig erfreulich sein.

Meine These als »mitdenkender Bürger« und Nicht-Mediziner lautet: Einer der Faktoren, der zur COVID-19-Sterberaten beiträgt, könnte die Frage sein, ob das soziale und familiäre Leben mehrere Generationen übergreift.

Ich kenne spanische, italienische und chinesische Familien. Und ich kenne deutsche Familien.

Höflich ausgedrückt: Die »südländischen« und »asiatischen« Familien, die ich kenne, leben weit »generationenübergreifender« als die deutschen Familien, die ich kenne. Anders ausgedrückt: Nicht wenige deutsche Familien praktizieren ohnehin eine »Isolation von Risikogruppen«.

Meine Beobachtungen sind natürlich »anekdotales Wissen«, jedoch beginnt 1. Wissenschaft praktisch immer mit »anekdotalen« Beobachtungen (Antike Griechen merkten, dass Schiffe hinter dem Horizont verschwinden; Newton beobachtete gelangweilt das Pendeln des Lüsters in der Kirche), und 2. betone ich, dass gerade bei einer Pandemie wohl mehr als ein Faktor zur Ausbreitung (wie auch zur Eindämmung) beitragen.

Erste Details

Meine These spricht vom ganz allgemeinen »Zusammenleben der Generationen«, nicht (nur) von Mehr-Generationen-Haushalten, doch letztere sind es, für die ich ad hoc Zahlen finden konnte.

Laut einer Studie, die inzwischen auch schon ein Jahrzehnt alt ist (ec.europa.eu), existierte 2008 (innerhalb der EU) in Rumänien, Litauen und Bulgarien mit 10% die höchste anteilige Anzahl von Drei-Generationen-Haushalten. Deutschland lag auf dem vorletzten Platz, vor Dänemark. Es ist eine der »nächsten« Studie, die ich am Morgen des 7. April 2020 gefunden habe, um meine Ad-Hoc-These abzusichern – oder zu widerlegen. Auch Studien der UN zur Zusammensetzung von Haushalten (un.org, 2017) und der EU zum »Overcrowding« (ec.europe.eu) sind mindestens auf den ersten Blick sowohl mit meiner These als auch mit aktuellen Entwicklungen kompatibel.

Was, wenn meine These stimmt? Was, wenn generationenübergreifendes soziales Leben ein nicht un-wesentlicher Faktor der Verbreitung des Virus ist?

Ein Beispiel: Rumänien wurde, so etwa hotnews.ro, 26.2.2020, etwas später als andere Länder mit dem Coronavirus konfrontiert – von einem Italiener (siehe auch Wikipedia-Eintrag »COVID-19-Pandemie in Rumänien«). Wenn an meiner These etwas dran ist, und wenn dort noch immer »generationenübergreifend(er)« gelebt wird, dann wird das Land bald sehr viel mehr Hilfe benötigen als ohnehin.

Gegen meine These könnte etwa sprechen, dass die Mortalitätsrate gegen die Zahl der Infizierten gemessen werden muss, doch wenn ich bedenke, wie unterschiedlich die Kriterien dafür sind, wer überhaupt getestet wird, wage ich die Vermutung, dass der »ungefähre« Blick womöglich für den Moment »weniger falsch« sein könnte. Für meine Thesen sprechen Fälle wo jenes Pflegeheim, wo innerhalb von Tagen gleich 29 Menschen starben (merkur.de, 7.4.2020) – wenn das Virus die Senioren erwischt, dann erwischt es sie richtig – wenn.

Nachträge (Stand 7.4.3030, Abend)

Nachdem ich diesen Artikel geschrieben und zur Debatte gestellt habe, erreichen mich Meldungen, welche meine These zu stärken scheinen – oder sie zumindest nicht widerlegen. So schreibt etwa marketwatch.com, 2.4.2020 (meine Übersetzung) über New York: »Ein Teil von Queens wo Familien oft ihre Apartments teilen hat die meisten Fälle von COVID-19«, und überhaupt scheinen die Daten aus New York nahezulegen, dass die Corona-Hotspots dort liegen, wo viele Generationen zusammen wohnen.

Der Stadtteil Queens/Elmhurst gilt nicht nur als »Epizentrum des Epizentrums« (nytimes.com, 5.4.2020), sondern beherbergt auch eines der größeren »Chinatowns«. Das Corona-Virus ist keine »Arme-Leute-Krankheit«, doch zu den Gründen, warum mehrere Generationen einander auf der Pelle hocken können, gehört neben kultureller Veranlagung eben auch blanke Armut, und so verwundert es wenig, dass innerhalb der Virus-Krisen-Region New York wiederum die Viertel mit den ärmeren Bewohnern deutlich am stärksten betroffen sind (siehe etwa usnews.com, 3.4.2020).

Auch im nun stark betroffenen Großbritannien wird seit einiger Zeit das »multi generational living« gefeiert, siehe etwa theguardian.com, 10.3.2019: »All under one roof: the rise and rise of multigenerational life«, und wieder scheinen die COVID-19-Hotspots dort zu liegen, wo Mehrgenerationen-Wohnen besonders populär ist, siehe theguardian.com, 7.4.2020 und birminghammail.co.uk, 29.11.2017.  – Ende der aktuellen Nachträge

Wochenende bei Oma und Opa

Als wir damals aus dem verfluchten Sozialismus flohen, war es ganz selbstverständlich, dass drei Generationen nicht nur zusammen flohen, sondern dann auch zusammen lebten. Meine Schwester und ich wuchsen so viel mit unseren Großeltern auf wie mit unseren Eltern. Selbst als sich die Generationen trennten, lebten wir nur wenige Ecken voneinander entfernt.

Meine eigenen Kinder verbrachten in ihren ersten Lebensjahren manches Wochenende bei Opa und Oma.

Und dann »verteilte« sich das alles.

Ich will es mal so umschreiben: Das Risiko, dass meine Familie oder die meiner Schwester unsere Eltern oder unsere Großmutter mit Corona anstecken sollten, wenn wir es hätten, ist momentan null, zero, nada.

Habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich mit meinen Eltern zwar täglich chatte, aber sie – wenn Sie wissen, was ich meine – nicht »anstecken« könnte?

Meine These ist auf eine Art eine »klassische Wegner-These« – auf eine andere Art aber das Gegenteil meiner sonstigen Thesen.

Ich schließe von ethischen Mechanismen auf die Erklärung aktueller sowie die Vorhersage zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen, und ich bin darin, jenseits aller geheuchelten Bescheidenheit, präziser als die Summe der Haltungsjournalisten, und insofern ist diese These strukturell »100% Wegner«.

Bislang war es aber immer so, dass eine Handlung, die man ethisch gut nennen kann, auch zu wünschenswerten Ergebnissen führte – mit dieser These wäre es aber um 180-Grad anders.

Als ich mich für konsequente Prävention aussprach, haben nicht wenig von Ihnen mich kritisiert – nicht alle sind bei ihrer Meinung geblieben. Ich habe es aus einer meiner ethischen Grundprämissen abgeleitet, wonach nichts wichtiger als das Leben ist.

Nun aber stelle ich selbst, halb erstaunt fest, dass eine gesellschaftliche Entwicklung, derer Teil und also Mit-Antreiber ich zwar selbst bin, die ich aber nicht für (generell) gut erachte, dazu führen könnte, Menschenleben zu retten.

Neu für mich

Auch (und gerade!) wer kein Wissenschaftler ist, muss sich dessen bewusst sein, dass alle Thesen nur vorläufig sind – besonders die, welche sich zuerst auf Anekdoten und einen Verdacht beziehen.

Deutschland erlebt ein teils verstörendes Auseinanderbrechen der Generationen, das sich bis zum vom Staatsfunk angefeuerten offenen Hass auf ältere Generationen steigern kann (siehe etwa »Umweltsau-Skandal«). Zu Beginn der Pandemie jubelten einige medien- und politik-nahen Linke ja geradezu, weil sie meinten, dass am China-Virus nur die verhasste ältere Generation sterben würde (es ist falsch).

Ja, ich halte es für möglich, dass das typisch deutsche Auseinanderbrechen der Generationen ein Faktor für die niedrige Mortalitätsrate ist. Dies ist neu für mich: Eine Entwicklung, die ich nicht gut finde, könnte mit zu etwas Gutem beitragen.

Meine These widerspricht in keiner Form den Forderungen und Maßnahmen, denen sich nach anfänglichem Hohn und Verächtlichmachen endlich auch Regierung und Staatsfunk angeschlossen haben – im Gegenteil! Bleiben Sie, so irgend möglich, daheim – bitte! Besorgen Sie sich bitte einen Mundschutz, den besten den Sie bekommen können.

Wir hören aktuell, dass der an COVID-19 erkrankte britische Premierminister Boris Johnson auf der Intensivstation liegt. Auch das sollte uns lehren: Diese Krankheit ist keine »Arme-Leute-Krankheit«, und nichts, was sich »abschalten« ließe, wenn man nur genug Geld auf den Tisch legt, ob man es hat oder nicht. Wir wünschen Johnson schnelle und vollständige Genesung!

Wenn Sie Eltern oder liebe Verwandte und Bekannte haben, rufen Sie diese mal neu an, ob via Telefon oder Videochat. »Darum wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch«, lesen die Christen in 1. Mose 2:24 (aber bitte nur daheim, heute mal nicht in der Kirche!), doch das heißt nicht, dass Sohn oder Tochter nicht mal anrufen können, gerade heute, wo viele Angst haben!

Wenn all dies vorbei ist, können Sie einander ja neu besuchen, auch wenn es vorher etwas abgeflaut war!

Selbst wenn meine These stimmen sollte, und eine schlechte Entwicklung zu etwas Gutem führte, heißt das noch lange nicht, dass wir es danach beibehalten wollen!

Nichts ist wichtiger als das Leben – und unsere Familie, so nervig, anstrengend und nervenfrittierend sie von Zeit zu Zeit sein mag, ist Teil unseres Lebens!

Weiterschreiben, Wegner!

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