Dushan-Wegner

22.04.2020

Deutschland, der Lotterie-Gewinner

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Foto von Frankie Lopez
Pünktlich zu Ramadan werden Veranstaltungen erlaubt. Auch Laschet und Antifa sind für rasche Lockerung. Deutschland hatte bislang Corona-Glück, doch es wirkt wie ein Lottogewinner, der den Gewinn verschleudert und nachher weniger hat als zuvor.
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»Schön ist es auf der Welt zu sein, sagt die Biene zu dem Stachelschwein«, so sangen einst Roy Black und Anita. Und wann ist es extra schön, auf der Welt zu sein? Wenn man gesund ist, klar, wenn man Freunde hat (muss man so sagen, sonst gilt man als unfreundlich) und wenn man genug Geld hat. Und wie hat man viel Geld (wenn man nicht arbeiten und etwas riskieren will)? Richtig, mit einem Lottogewinn!

Einmal nur im Lotto zu gewinnen, dann wären alle Probleme gelöst, zumindest die finanziellen, oder?

Nein, wenn man den Zahlen glauben darf – und um Zahlen geht es hier – dann ist das nicht ganz so. Nicht für (die meisten) Lottospieler, nicht für Bienen und nicht für Stachelschweine.

Es gibt sowohl einzelne Erzählungen von Lottogewinnern, die ihr Geld bald wieder verloren und ärmer waren als zuvor (etwa tz.de, 31.10.2019: »Mann (19) gewinnt zehn Millionen Euro im Lotto – […] landet ganz unten.«) – und es gibt wissenschaftliche Untersuchungen dazu (mitpressjournals.org, 22.4.2020).

Mit genug Abstand spazieren

Deutschland hat in der Corona-Pandemie bislang vergleichsweise viel »Glück« gehabt (wenn man das so überhaupt sagen sollte), so schien es und so scheint es weiterhin. In vollem Bewusstsein um die mögliche Willkürlichkeit all dieser Zahlen, stellen wir fest, dass in Deutschland aktuell »nur« 61 Menschen pro Million Einwohner offiziell am China-Virus starben. Bei drei westlichen Nachbarn sieht es anders aus: Niederlande 229 Tote pro Million, Frankreich 319, Belgien 518.

Wenn man nach den Ursachen dieser Unterschiede fragt, hört man noch immer verschiedene Theorien. (Meine Theorie ist ja, dass in Deutschland unter anderem die Generationen eher getrennt voneinander leben, siehe Essay vom 7.4.2020.)

Auch in Deutschland wurden gewisse Maßnahmen zum »Abstandhalten« eingeführt – jedoch: Mir scheint, dass zu keiner Sekunde diese Maßnahmen wirklich deutschlandweit konsequent beachtet wurden. Und: Die Maßnahmen, über welche in Deutschland gejammert wird, sind mit Verlaub eine sanfte Brise gegen den echten Lockdown in anderen Ländern, wo man davon träumen würde, alleine mit genug Abstand spazieren gehen zu dürfen.

Wenn nicht…

Ich bin aktuell der Leute müde, die genau einen Faktor benennen, auf den sie zufälligerweise getroffen sind, und in diesem sowohl die Erklärung für alle aktuellen Phänomene (Widersprüche ignorierend, klar) als auch die Begründung ihrer präferierten Lösung suchen.

Mit deutlich mehr Interesse betrachte ich jene »theoretischen Praktiker, die sich die absoluten Zahlen anschauen, und aktuell den Verdacht entwickeln, dass die Gesamtzahl der Toten steigen könnte, vielleicht da die Menschen im Lockdown sich weniger bewegen und sich ungesünder ernähren, da notwendige Untersuchungen aufgeschoben werden (siehe auch Essay vom 18.4.2020), oder schlicht da Einsamkeit unglücklich macht und Lebensfreude nimmt. Es ist inzwischen praktisch etabliert (und auch nicht mehr rückgängig zu machen), dass man einen Teil der Wirtschaftsleistung zur Bekämpfung der Pandemie opfert – doch würde man/ sollte man/ dürfte man auch Menschenleben opfern, um Menschenleben zu retten? (Die Politik befände sich in einer modernen Variante des Trolley-Problems, welches ich etwa im Essay vom 13.11.2017 erläutere.)

Ich höre von Ärzten, deren Patienten nach einer COVID-19-Erkrankung vollständig genesen sind – sagen sie. Und dann höre ich, dass einige Patienten, welche offiziell als genesen galten, wohl ein Leben lang mit Schäden an der Lunge leben werden. Neben den Einzelberichten (»Anekdoten«, womit aber alle Wissenschaft beginnt; etwa bei nypost.com, 17.4.2020), gibt es auch erste wissenschaftliche Untersuchungen, welche auf mögliche Langzeitschäden von Organen auch über die Lunge hinaus hinweisen, etwa des Herzens (ncbi.nlm.nih.gov, 11.3.2020) oder der Niere (Übersicht via ngfn.eu).

Ja, Deutschland darf hoffen, im Verhältnis zu anderen Ländern doch glimpflich davon gekommen zu sein. Die nun schon berüchtigte Kurve scheint abzuflachen, von kleineren Tagesschwankungen abgesehen. Wenn nicht…

Laschet fordert

In NRW regiert ein Herr als Ministerpräsident, dem schon mal Klausuren verloren gehen und der dann Noten nach seinen »Notizen« vergibt (die leider auch weg sind), auch an einige Leute, die gar nicht an der Klausur teilnahmen (tagesspiegel.de, 17.6.2015). Dieser hochkompetente und grundehrliche Herr hatte bis vor der Pandemie gewisse Chancen, CDU-Chef und damit nächster Kanzler zu werden. In der Pandemie aber erwies sich Herr Söder aus Bayern als weit besseres »Kanzlermaterial«. Also, so scheint es, wagt Herr Laschet die »Flucht nach vorn«.

Es wirkt, als würde Laschet alle seine Pokerchips auf die »Lockerung« setzen, um so doch noch irgendwie relevant zu bleiben. Man liest aktuell fast täglich, dass Herr L. aus NRW mehr »Lockerungen« fordert, sich offen gegen Vernunft und Vorsicht aussprechend, vergleiche aktuell etwa faz.net, 22.4.2020 (Nachtrag 23.05.2020: nicht mehr abrufbar, aber vergleichbar hier: faz.net, 21.04.2020 (€)): »Zwar wisse man dann noch nicht, wie sich bisherige Lockerungen auswirkten. ›Ich glaube trotzdem, dass man noch einmal über ein paar weitere Maßnahmen nachdenken muss‹, sagte Laschet.«. In den Sozialen Medien ist es ein neues »Witz-Meme« unter »#laschetfordert« sich auszudenken, was der Herr aus NRW außer schneller Lockerung noch so alles fordern könnte. Mancher Humor ist leichter, etwa:

#Laschetfordert ein IKEA-Regal mit dem Namen LASCHØT. Es soll ohne Plan und den notwendigen Schrauben zu einem ungünstigen Zeitpunkt zugestellt werden. (@WeingutSanders, 22.4.2020)

Andere Witze sind direkter:

#laschetfordert Wir müssen auch an die Sargindustrie denken. (@Begriffvon, 22.4.2020)

Und manche Witze sind ähnlich direkt, aber maximal kompakt:

#Laschetfordert tote (sic!, @FrancisMalevil, 22.4.2020)

Laschet ist mit seinen Forderungen nach rascher Öffnung und »Lockerung« übrigens nicht allein!

Es zeichnet sich etwa ab, dass auch die Berliner Linksextremen in ihren von Ideologie und gelegentlich wohl gewissen Substanzen geformten Gedankenwelten es als richtig ansehen, demnächst, zum 1. Mai, demonstrieren zu gehen (welt.de, 20.4.2020).

In der Pandemie tun sich interessante Bündnisse auf! Mancher, der sich heute darin gefällt, das Stachelschwein im Fleisch der Vorsicht zu spielen, könnte später ganz ohne Stachel dastehen, im übertragenen Sinn.

Spannend.

Laschet fuhr so viele Jahre gut damit, an Merkels Rockzipfel durch die Politik zu surfen – jetzt versucht er eben, eigene Wellen des Populismus abzusurfen. Man könnte ja darauf wetten, ob er ins Wasser fällt oder auf dem Brett bleibt – es liegt nicht nur an ihm.

Dieser Tage war Merkel in den Schlagzeilen, als sie sich gegen »Öffnungsdiskussionsorgien« aussprach (tagesschau.de, 20.4.2020). Dass sich die ehemalige Ex-FDJ-Sekretärin mit dem besonderen Verhältnis zu demokratischen Gepflogenheiten gegen Debatten ausspricht, das ist nicht besonders erstaunlich. Immerhin auf den ersten Blick überraschend war dagegen die Reaktion des Staatsfunks, der sie zu kritisieren schien; tagsschau.de, 21.4.2020: »Merkels Kritik ist anmaßend«.

Mancher sonst kritische Beobachter fiel darauf herein und meinte, hier läge echte, konsequente Kritik an der Kanzlerin vor. Wer den Text aber bis zum Ende durchlas oder anhörte, und wer auf den letzten Absatz achtete, der konnte recht deutlich sehen, das da nur etwas Druck vom Ventil abgelassen wurde, um später Merkel doppelt zu stärken. Der letzte Absatz lautet: »In 14 Tagen wird sich zeigen, ob wirklich dort die Infektionszahlen signifikant steigen, wo ein kleines bisschen mehr Freiheit gilt. Oder ob die Menschen vielleicht gerade deshalb vernünftig sind.« – In anderen, »stachligen« Worten: Man gibt der Kanzlerin vorab die »Erlaubnis«, in 14 Tagen (bzw. in 1 Monat, nach Ramadan), auch in Deutschland einen vollen, echten »Lockdown« zu fahren.

Die einzige Konstante in Merkels Handeln ist ihr Machtinstinkt, und der scheint ihr zu sagen, dass es hier sehr unangenehm werden könnte, den deutschen Vorsprung einfach so zu verzocken. Laschet wettet zum ersten Mal gegen Merkel – spannend. Sollen in NRW unnötig Menschen erkranken, damit Laschet sich profilieren und irgendwie doch noch als Kanzlerkandidat ins Gespräch kommen kann, würde es für die Erkrankten natürlich bitter werden. Zum Glück bereitet man in NRW die Lehrer und Schüler darauf vor, mit Todesfällen »klar zu kommen« (siehe Essay vom 17.4.2020).

Dies alles bedenkend

Deutschland hat in dieser Krise, so darf man vorsichtig postulieren, aus verschiedenen Gründen »Glück gehabt«. Einigen anderen Ländern geht es sehr anders.

Das verantwortungsvolle Vorgehen wäre an dieser Stelle, die wirklich essentiellen und nachhaltigen Teile der Wirtschaft zu stärken (und zwar wirtschaftlich und sozial essentiell, nicht ideologisch), doch Ansteckungsrisiken zu minimieren, »höflichen Abstand« zur neuen Staatsdoktrin zu erklären (siehe Essay vom 18.4.2020) wie bislang die Leugnung der Realität (»politische Korrektheit«), und digitale Bildung mit auch nur einem Viertel des Enthusiasmus zu betreiben, mit dem man bislang die Zerstörung von Wirtschaft und Natur (siehe Essay com 3.1.2020) im Namen des »Umweltschutzes« betrieb.

Ich kann die Menschen verstehen, welche unter dem deutschen »Lockdown Ultralight« leiden. Ich habe Verwandte im Gesundheitswesen, die sind auf merkwürdige Art ausgelastet (jeder Arzt und jede Krankenschwester ist heute auch, stellenweise: zuerst, ein Panik-Therapeut), aber ich habe auch gute Bekannte in Branchen, in denen aktuell das Lebenswerk der letzten Jahre und Jahrzehnte zerfällt und zerrinnt wie trockener Sand zwischen den Fingern. Und, dies alles bedenkend: Die Einschränkungen und Verluste durch die Pandemie in Deutschland sind ein Spaziergang gegen das, was anderswo durchgemacht wird.

In Ländern, die früher und/oder stärker be- und getroffen waren, spricht man heute von der »zweiten Welle« des Virus (siehe etwa forbes.com, 21.4.2020, contagionlive.com, 17.4.2020, ft.com, 17.4.2020).

Ja, ich befürchte auch für Deutschland eine zweite Welle, die dann »so richtig« zuschlägt, und ich ahne auch einen Mechanismus, der mit dazu führen könnte: »Ostern alles zumachen, Ramadan wieder öffnen, und Weihnachten dann wieder zumachen« (Essay vom 13.4.2020) – lieber eine »zweite Welle« als Bürgerkrieg und/oder offensichtlichen Autoritätsverlust riskieren. Es überrascht eher weniger, dass etwa in Berlin, pünktlich zum Ramadan, wieder Versammlungen erlaubt werden (n-tv.de, 21.4.2020).

Deutschland und Möchtegernpopulisten wie Armin »Klausurenprofi« Laschet erinnern an den Lottogewinner, der seinen Hauptgewinn nicht dankbar und klug bewahrt, sondern ihn euphorisch und gedankenlos verschleudert – und am Ende mit weniger dasteht als zuvor.

Die Zukunft war schon lange nicht mehr so offen wie heute. Ich glaube niemandem, der heute meint, mit Sicherheit sagen zu können, was die eine Erklärung und damit der eine vernünftige Weg nach vorn ist.

Deutschland hatte in der Pandemie viel Glück – hart erarbeitetes Glück, kein Zweifel – eine Art von »verdientem Lottogewinn« gewissermaßen. Ich wage den Vorschlag, dass es vielleicht, eventuell, wenn es nicht zu viel Umstände bereiten würde, eine nicht ganz dumme Idee sein könnte, das Glück, das man hatte, nicht leichtfertig zu verschleudern. »Schön ist es, auf der Welt zu sein« – schön, ja, aber nicht selbstverständlich.

Aus der Tatsache, dass gestern und heute die Sonne aufging, folgt bekanntlich nicht zwingend, dass sie morgen aufgehen wird (siehe auch Essay vom 24.3.2020). Noch weniger folgt aus dem Anschein, dass wir bislang Glück hatten, dass wir auch morgen wieder Glück haben werden.

Gebt nicht der Versuchung nach, euch dieser oder jener Sache sicher zu sein, nur weil ihr euch so nach Sicherheit sehnt! Ertragt das Nichtwissen – und handelt als Nichtwissende. Berechnet immer mit ein, dass ihr auch komplett falsch liegen könntet.

Oder, mit etwas frecher Leichtigkeit formuliert: Wir sollten der Pandemie so begegnen, wie Stachelschweine sich der Liebe hingeben – vorsichtig.

Weiterschreiben, Wegner!

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