Dushan-Wegner

08.08.2018

Leben und Sterben im Internet

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild von Jon Flobrant
Was nützt alle künstliche Intelligenz, wenn die natürliche Intelligenz einander den Kopf einschlägt? Empört euch weniger. Lebt mehr. Irgendwann ist es vorbei, in echt und im Internet.
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Es war um 1990, als ich mit Freunden auf einem Fünf-Wochen-Trip durch die USA unterwegs war. Der Trip prägt bis heute mein USA-Bild. Manchmal schliefen wir bei Bekannten und Verwandten, manchmal in Motels. Dass ich heute die USA so schätze, das liegt auch an den vielen Gesprächen, die ich damals mit Amerikanern führte.

Ich habe New York noch mit World-Trade-Center gesehen, ohne diese Wunde. Ich habe Delfine vor Floridas schneeweißem Strand durch die Wellen tanzen gesehen, und Züge, die die Kornfelder der Flyover States durcheilten, während wir auf Heuballen saßen und Melonen aßen. Ich habe in Las Vegas aus 20 Dollar erst 70 Dollar gemacht – über Stunden hinweg! – und dann in kaum einer Viertelstunde die 70 Dollar komplett verloren. Es waren gut angelegte 20 Dollar, wenn man den Spaß gegenrechnet! Ich bin am Grand Canyon aufgewacht und ich habe den Halfdome bestiegen.

Ach ja, und dann war da noch eine Sache. Ein Nebensatz. Eine Kleinigkeit. Ein Hurrikan, den ich im ersten Moment kaum als Brise wahrnahm: Ein Freund, der sich damals schon länger in den USA aufhielt, sagte zu uns: »Leute, dieses Internet, das müsst ihr euch unbedingt anschauen! Das wird noch groß!«

Ich notierte das, mental. Ich kaufte derweil »Chronic« von Dr. Dre auf Kassette und hörte das auf dem Autoradio des Lincoln Continental, Baujahr 1976. Ich erinnere mich, dass ein christlicher Freund ob der Lyrics dieser Rap-Musik erschüttert war. Diese Drogen! Dieser Sex! – Und ich: Diese Kunst! Dr. Dre hat später eine Kopfhörer-Firma gegründet und an Apple verkauft. Ich mag meine Kopfhörer von Beyerdynamic lieber.

Das Internet wurde zum Teil unseres Lebens – und unser Leben wurde zum Teil des Internets. Wir posteten Geburten und Geburtstage, und wir lernten neue Worte wie »posten«. Wer noch Tagebücher schrieb, der lernte bald, sie im Internet zu schreiben. Wir stülpten unser Inneres nach außen, und für manchen wurden das Äußere zum Inneren, und das Äußere ist naturgemäß flach und eindimensional, und wenn Sie denken, ich verliere mich ich in einem schöndenkerischen Chiasmus, dann darf ich Sie darauf hinweisen, dass es Menschen gibt, die zum Chirurgen gehen, mit dem Auftrag, er möge ihr Gesicht bitte so hübsch machen, wie es dank der Filter in Foto-Apps aussieht. (»Ich möchte so schön sein, wie meine Follower denken, dass ich schön bin! Und so reich! Und so nicht-unglücklich.«)

Wir wachen auf und noch bevor wir unser Brötchen schmieren, schmieren wir unsere Morgengedanken auf die Bildschirme der Follower, der Fremden, und immer, wie wir später erfuhren, auf die Rechner der amerikanischen Freunde und Verbündeten. »Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht«, sagte die Schreckliche, doch es ist kein Ausspähen, wenn man die Daten freiwillig hergegeben hat.

Ich kann mich noch an die Dia-Abende mit meinem Vater erinnern. Die Stationen unserer Flucht aus dem Sozialismus, dieser realen Ideologie irrealer Psychopathen. Die Bilder aus Rom, dem Kolosseum, wo einst Christen von Löwen zerfleischt wurden, wo damals, als mein Vater dort war, Katzen herumliefen. Wir haben diese Katzen viele Male auf seinen Dias gesehen. Cat-Content! Wir wussten, was er sagen wollte: Klagt nicht, dass wir fliehen mussten, anderen Christen ging es noch übler. – »Papa, machen wir wieder Dia-Abend?« – Heute, dank Internet und Smartphone, hat jeder von uns tausendmal mehr Fotos in der Tasche als mein Vater in allen fünfzehn Diaboxen zusammen – und keinen einzigen Dia-Abend. Wir haben unsere Erinnerungen ins Internet hochgeladen, und dann hat das Internet unsere Erinnerungen ausgewertet, verändert, zurückgespeist. Meine Kinder wissen nicht, was ein Dia-Abend ist. Oder eine Christenverfolgung. Ich schütze sie vor mancher Nachrichtenmeldung.

Letztens habe ich erfahren, dass eine Leserin gestorben war. Vor ihrem Tod hatte sie mir eine Summe angewiesen, einen großzügigen Leserbeitrag. Im Nachhinein wird mir klar, dass sie da schon wusste, dass sie bald sterben würde. Leben und Sterben im Internet – ich versuche, es zu verstehen. Ich verstehe es noch nicht.

Die Natur findet einen Weg. Der Mensch ist Natur. Das Leben des Menschen ist Natur. Das Internet ist ein Menschgeschaffenes, und was wir selbst erschaffen, das pflegen wir künstlich zu nennen. Die Tauben passen sich an die Stadt an und der Mensch passt sich ans Internet an. Archäologen erforschen die Ruinen alter Zivilisationen. Was wird man erforschen, wenn der Nachfolger des Internets kommt?

Facebook hat offizielle Informationen für »Konten im Gedenkzustand«. Es sind Support-Seiten wie andere auch. So ändern sie ihre E-Mail-Adresse. So geben Sie eine neue Kreditkarte ein. So vermerken Sie bei Facebook, dass Ihre Welt gerade zusammengebrochen ist. Das Internet, das ich damals kennenlernte, war nichts als fröhlich, nichts als hoffnungsfroh. Für meine Kinder wird es »ganz normal« sein, dass Menschen auch »im Internet« sterben. Für mich ist es das nicht, wird es wohl nicht werden.

Das Internet verändert nicht nur unser Leben, indem und nachdem wir es hochladen, es verändert auch unsere Arbeit. Ich schreibe diese Zeilen in Microsoft Word und übers Internet können Freunde sie gegenlesen. Ich werde diesen Text via WordPress veröffentlichen und damit Ihnen vorlegen. Einige Monate später werde ich ihn wohl in einem Buch über Amazon zur Verfügung stellen. Ich denke bisweilen an den Film Shining (der erste Film übrigens, den ich mit Elli sah, als wir uns kennenlernten. Das Buch habe ich nicht gelesen) und ich frage mich, ob Jack auch dann durchgedreht wäre, wenn er seine Texte via Internet mit Freunden geteilt hätte, oder sogar öffentlich gebloggt, um Feedback in Echtzeit zu erhalten. Ich kann dem Internet gar nicht genug danken, für die Möglichkeit, innerhalb von Minuten und Stunden mit Lesern über Texte zu reden.

Ich bin Blogger und so hat das Internet mein Leben und meine Arbeit zugleich geformt. Treue Leser wie Sie wissen, dass ich ungefähr an dieser Stelle, nach einer persönlichen oder historischen Einleitung und einer philosophischen Kontextualisierung, ein politisches Tagesthema aufgreife. Zu meiner Arbeit – und damit zu meinem Leben – gehört, dass meine (täglichen) Leser wissen, was Sie erwartet, in der Struktur und zumindest der Grundrichtung nach auch im Inhalt.

Heute will ich nicht politisch werden. Ich bin guter Dinge, dass auch andere freie Denker statt meiner heute ihre zugespitzte Analyse des Unmittelbaren auf die Smartphones, Tablets und PCs des kritischen Teils der Republik liefern. It’s called a changeover. The movie goes on, and nobody in the audience has any idea.

Das Internet hat uns nicht nur Babyfotos eingebracht, nicht nur E-Mails und Klickdreck. Das Internet – insbesondere Social Media – haben uns auch in einen Zustand versetzt, der inspiriert vom Buddhismus eine »dauernde Anhaftung an die aktuelle Empörung« genannt werden könnte. Wir alle, auch die, die solche Anhaftung schlecht finden (dass ich Zahnschmerzen doof finde, heißt ja nicht, dass ich vor ihnen gefeit bin!), sind Tag für Tag mit der jeweils aktuellen Empörung beschäftigt – die einen, indem sie sich ihr hingeben, und die anderen, indem sie jene, die sich der Tagesempörung hingeben, genau dafür kritisieren – wer zu welchem Lager gehört, das wechselt.

Nein, ich will hier und heute nicht politisch werden. (Zugleich zucke ich meine Schultern, wenn mir einer an dieser Stelle keck sein »Zu spät!« zuruft.)

Die Empörung des Tages hat selten, statistisch gesehen sogar nie, unmittelbar uns selbst zum Gegenstand, und doch kämpfen wir mit heißer Wut und sprudelnden Hormonen. (Einige meiner Leser sind Promis, die tatsächlich alle paar Wochen oder Monate zum Gegenstand allgemeiner Empörung werden; freundlichen Gruß! Für Sie gilt der Satz natürlich nicht – für den Rest von uns durchaus.)

Wir werden zum Kämpfer in Stellvertretung. Die Hochzeit der Royals ist ja auch nicht meine Hochzeit, das Fußballspiel irgendwelcher Millionäre ist ja auch nicht mein Spiel, und die Wahrheit dieser Kerle von der Tagesschau ist ja nun wirklich nicht meine Wahrheit – geschweige denn »die« Wahrheit.

Was bleibt vom Internet, dessen Existenz mir irgendwo zwischen Toronto und Tijuana zugeflüstert wurde? Die Hoffnung? Ich weiß es nicht. Der Aufbruch? Nein, sorry, kein Aufbruch, nicht mehr.

Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Internet das Internet ist, und das Leben das Leben, ob wir das eine in das andere hochladen oder nicht. Das Internet kam. Das Internet wird gehen. Etwas anderes wird kommen. Das Leben als Idee, als die reflexive Sehnsucht nach der eigenen Erfüllung, als das einzige und letzte Alles, das Leben wird bleiben – hoffe ich.

Was wird nach dem Internet kommen?

Ich wünsche mir: Auf das Internet folgt etwas, das uns hilft, unseren Aberglauben und unsere Manipulierbarkeit zu überwinden. Was nützt alle künstliche Intelligenz, wenn die natürliche Intelligenz einander den Kopf einschlägt?

Ich fürchte: Auf das Internet folgt eine Technologie, welche den Menschen noch manipulierbarer macht, als das Internet es ohnehin schon tat.

Es wurden ja Menschen gefragt, was sie im Rückblick auf ihr Leben gern anders gemacht hätten. Die Menschen haben Antworten gegeben wie »ich wünsche, ich hätte mehr Zeit verbracht mit den Menschen, die mir wichtig waren«, und »ich wünsche, ich hätte mir erlaubt, ganz ich zu sein« – kein einziger der Gefragten bedauerte, sich nicht viel mehr über Internetmeldungen empört zu haben.

Was bleibt? Was immer bleibt, auch vom Internet, sind die Lehren, die wir erst ziehen und dann ignorieren. Etwa diese: Empört euch weniger. Lebt mehr. Irgendwann ist es vorbei, in echt und im Internet.

Weiterschreiben, Wegner!

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