Dushan-Wegner

27.02.2018

Lass los, Sisyphos!

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Hanny Naibaho
Sisyphos will ja den Stein wieder hochschieben. Der neue Sisyphos ist ein braver Deutscher. Doch Sisyphos ahnt, dass dieser Stein ihm zu schwer sein wird.
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Mancher hört den Namen Sisyphos und er denkt gleich an diesen Gestraften, wie er an den Kaukasus gefesselt darniederliegt, und wie der Adler ihm die Leber aushackt – und wer solches denkt, der hat prompt Sisyphos mit Prometheus verwechselt. – Beim Namen Sisyphos denkt der Gebildete natürlich richtig an jenen armen Wicht, der Tag für Tag einen Felsblock den Berg hinaufschiebt, nur damit dieser kurz vorm Gipfel wieder ins Tal rollt.

Ich gebe Ihnen übrigens mein Ehrenwort, dass folgendes Zitat so gefallen ist: »Was für eine Syphilisarbeit!« – Syphilos war nun ein gotteslästerlicher Schafhirte, also wieder eine andere Figur. Alle Lieblinge der Götter gleichen einander, jeder Verstoßene wird aber auf seine eigene Weise bestraft.

Selbst Belesene bedenken selten, dass jener Sisyphos nicht zu allen Zeiten eine derart zu bedauernde Gestalt gewesen war. Sisyphos regierte einst als erster König von Korinth und als solcher war er recht erfolgreich. Wir wissen eigentlich gar nicht, was genau es war, das jenem Griechen diese sehr deutsche Strafe bescherte. Die einen sagen, er habe den Todesgott ausgetrickst und dafür sei er eben dazu verdammt worden, täglich eine Tätigkeit auszuführen, die in ihm wenig mehr als die Sehnsucht nach dem Tode am Leben hielt. Die anderen sagen, er habe Zeus verraten, denn er habe nicht lange genug applaudiert nach dessen Parteitagsrede, und dafür konnte er wählen, das Gesundheitsministerium zu übernehmen oder in der Unterwelt auf ewig einen Stein den Berg hochzuschieben. Er wählte die Unterwelt. Weil wir so wenig wirklich wissen, können wir so viel zu wissen behaupten!

Vom Saulus zum Albert

Was wir über die Lehre des Jesus Christus zu wissen meinen, das wissen wir zum guten Teil vom Apostel Paulus, der eigentlich Christen verfolgte und dann vom Pferd fiel und Jesus sah, um prompt zu erblinden – und daraufhin war er nicht gut auf Juden zu sprechen.

Was wir über Sisyphos zu wissen meinen, das wissen wir von Albert Camus, Sohn algerischer Siedler, Kommunist und Beauftragter für prokommunistische Propaganda unter den Muslimen von Algier (eine Tätigkeit, bei der sein konsequenter Atheismus nicht gerade half).

Wie händeringend?

Der Mensch versucht – sagt Camus – Sinn zu finden, in einer sinnleeren Welt. Diese Zerrissenheit zwischen Sinnsuche im Alltag und Sinnentleertheit menschlicher Existenz insgesamt, das ist das Absurde.

Manchmal stürzen die Kulissen ein. Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das »Warum?«, und mit diesem Überdruss, in den sich das Erstaunen mischt, fängt alles an.
– Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos

Was also soll der Mensch tun? Schneller arbeiten? Genügt es, sonntags zur Kirche zu gehen? Muss er auch den Rosenkranz beten, und wenn ja, wie händeringend?

Camus’ Antwort auf das Absurde ist der Absurdismus: Umarme das Absurde, statt ihm entgehen zu wollen! Verachte das Schicksal, statt um Sinn zu winseln!

Lass los, Sisyphos!

Es gibt (rein theoretische) Berührungspunkte zwischen dem Absurdismus und (dem westlichen Verständnis des) Buddhismus. Beide rufen sie zum Loslassen auf, beide versuchen so, Leid zu überwinden.

Eine Welt, die man – selbst mit schlechten Gründen – erklären kann, ist eine vertraute Welt. Aber in einem Universum, das plötzlich der Illusionen und des Lichts beraubt ist, fühlt sich der Mensch fremd. […] Diese Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen, genau das ist das Gefühl der Absurdität.
– Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos

Camus wäre mit diesem Vergleich gewiss unzufrieden, schließlich ist der Buddhismus ein Werkzeug der Sinnsuche, samt Ziel (Erleuchtung und Nirvana) und einem Weg dorthin (Edler Achtfacher Pfad) – der Absurdismus ist aber eben der bewusste Sinnverzicht. (Es ist charmant, dass vielen Europäern der fernöstliche Buddhismus näher ist als der durch und durch europäische Absurdismus.)

Sisyphos bist du gewesen, Sisyphos sollst du werden

Wir hatten uns eingerichtet. Wir hatten als Jugendliche stolz Camus und Nietzsche gelesen, alte Männer zur Vorbereitung aufs anstehende Leben, heimlich vielleicht Coelho und einige von uns auch Carnegie. Doch wir begriffen, dass es eben doch einen Sinn jenseits des Absurden gibt. Die Summe der kleinen Momente, das chaotische Familienessen, das Einrichten des Kinderzimmers, das erste bewusste Erleben der Jahreszeiten, und zwar nicht einzeln, sondern als Kreis, und dann, Fieber zu haben und von einem Menschen versorgt zu werden, der erste Job und das erste Gehalt, kurz: das Ordnen unserer relevanten Strukturen, das Aufgehen in unseren Kreisen.

Sisyphos dachte, er hätte den Felsen doch noch nach oben gerollt. Gegen alle Götter, gegen die eigenen Dämonen, durch zwei Weltkriege und manche Irrung hindurch. Gegen alle Wahrscheinlichkeit hatte Sisyphos den Felsen auf den Berg gerollt.

Sisyphos, du bedauernswerter Träumer! Einmal Sisyphos, immer Sisyphos – weißt du das denn nicht?

Den Sisyphos des Camus trifft die Absurdität durch eine schwere Krankheit, durch einen Tod in der Familie. Manchmal springt ihn die Absurdität auch in der Betrachtung der Masse an. Schau dir den morgendlichen Stau vor Düsseldorf an, all diese Ameisen auf dem Weg zur Arbeit, und du bist eine davon. Wenn du plötzlich nicht mehr da wärst, was wäre anders? Deine Familie müsste sich neu arrangieren, dein Chef einen Nachfolger einstellen. Der Lauf der Welt würde keine Sekunde, keine Sekunde einer Sekunde innehalten. Das ist das Absurde, und für einen Moment hatten wir es überwunden.

Der neue, alte Sisyphos hatte den Stein den Berg hinaufgerollt, es war ihm gelungen, und dann kamen höhere Mächte und schubsten ihn wieder herunter.

Das Versprechen der Kanzler von Adenauer bis Kohl war, dass unter ihnen der Bürger kein Sisyphos sein muss. Wer hart arbeitete, dem konnte es gelingen, dass sein Felsbrocken oben am Berg ankommen würde. Sogar die Landschaften im Osten hatten zu blühen begonnen.

Sisyphos hatte den Stein nach oben gerollt, doch er hatte versäumt, ihn oben zu fixieren. Die Götter müssen Sadisten sein. Die Götter schickten Merkel, und Merkel schubste dem Sisyphos seinen Stein wieder den Berg hinunter.

Es ist wieder da, das Gefühl der Absurdität. Es ist absurd. Man fährt zur Arbeit, man bezahlt sein Haus ab und man weiß nicht wieso. Im Fernsehen schwärmt die Elite vom »Experiment«, das an Deutschlands Bürgern durchgeführt wird. Maus zu sein in einem Experiment höherer Mächte, größere Absurdität ist kaum denkbar.

Wissen Sie noch, als unser größtes Problem es war, welche Speichergröße der neue iPod haben sollte, welchen Bausparvertrag wir abschließen würden, ob die nächsten Turnschuhe von Nike oder Adidas sein würden? Es war eine feine, süße Absurdität, die wir uns gerne gönnten, denn das große Leben hatte Ordnung.

2018 aber können wir mit dem Camus von 1942 mitsprechen, erlauben Sie mir die Wiederholung:

Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist meist ein bequemer Weg. Eines Tages aber erhebt sich das »Warum?«

Warum schiebt Sisyphos heute den Felsbrocken den Berg hinauf?

»Wir schaffen das!«, hört Sisyphos vom Rat der Kinderlosen, und: »Keine Obergrenze!«

Schiebe deinen Stein, rolle ihn hinauf, Sisyphos, denn wer den Stein nicht rollt, der ist ein Nazi!

Sisyphos will so sehr, dass der Stein wieder oben liegt. Er lag doch schon einmal oben! Wir waren Könige! Was ist schiefgegangen? Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn Schröder in jenen Wahlabend im TV weniger, sagen wir, »aufgebraust« hineingegangen wäre? Was wäre alles möglich gewesen!

Afrika hat 1,2 Milliarden Einwohner, Tendenz steigend. Sehr viele sind sehr arm. Merkel sagt: »Keine Obergrenze!« – Sisyphos will ja den Stein wieder hochschieben. Doch Sisyphos ahnt, dass dieser Stein ihm zu schwer sein wird.

Wir müssen uns Sisyphos als einen Deutschen vorstellen, und er ist ganz und gar nicht glücklich.

Weiterschreiben, Wegner!

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