Dushan-Wegner

02.04.2019

Künstliche Intelligenz und Mäusespeck

von Dushan Wegner, Lesezeit 9 Minuten, Bild von Edward He
China plant, bis 2030 der Weltmarktführer bei künstlicher Intelligenz zu sein – Deutschland arbeitet derweil an seiner ökologisch-korrekten De-Industrialisierung – nun ja, immerhin bei der Meinungsfreiheit werden sich die beiden Länder ähnlicher.
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Man verrühre Gelatinepulver mit kaltem Wasser und erwärme die Mischung. Sobald es aufgequollen ist, kochen Sie die Mischung kurz auf, und dabei rühren Sie immerzu weiter. Geben Sie Puderzucker, Maisstärke und etwas Vanillearoma hinzu. Schlagen Sie die heiße Gelatine mit dem Schneebesen, bis daraus eine schaumige Masse wird – gewiss haben Sie erraten, was wir hier kochen! Es sind »Marshmallows«, zu Deutsch: Mäusespeck!

Haben Sie auch schon Lust auf diese leckere weiche Süßigkeit mit diskutabler gesundheitlicher Auswirkung? Wenn in diesem Augenblick frische, daheim hergestellte Marshmallows vor Ihnen stünden, wie lange könnten Sie widerstehen?

Vielleicht haben Sie schon vom »Marshmallow-Test« gehört (Wikipedia-Link)! – Der Psychologe Walter Mischel setzte vierjährigen Kindern einen Marshmallow vor, und er stellte sie vor die Wahl, sofort den Marshmallow zu essen, oder einige Minuten zu warten und dafür zwei Marshmallows zu bekommen.

In Abständen von jeweils einigen Jahren brachte Mischel in Erfahrung, wie sich die verschiedenen Kinder als Teenager und junge Erwachsene entwickelten. Er stellte fest, dass diejenigen, welche schon als Vierjährige die Belohnung aufzuschieben wussten, später in mehreren Hinsichten erfolgreicher waren, von der geringeren Zahl an Drogenproblemen über höhere Frustrationstoleranz bis hin zu besseren Schulnoten.

Man fragt sich natürlich: Ist unser Erfolg im Leben allein davon abhängig, wie willensstark wir im Alter von vier Jahren waren? Und was, wenn wir bereits dann wissen, dass uns einer statt zwei Marshmallows genügt? – Ob Kinder sich später ändern können oder nicht: Der Lebenserfolg eines Menschen hängt mit seiner Fähigkeit (und Gewohnheit) zusammen, eine Belohnung aufzuschieben zugunsten einer wertvolleren Belohnung später.

Den Kindern

Liebe Kinder, die ihr noch in der Schule seid, hier kommt eine Wahrheit, die einige angenehm finden werden und andere weniger angenehm: Jede Wissenschaft besteht, wenn man sie ordentlich und weit genug treibt, im Kern zu einem ganz wesentlichen Teil – wenn nicht sogar komplett – aus Mathematik.

Zack auf Zack geht es heute, liebe Kinder, hier gleich die nächste Wahrheit, die man euch nicht in der Schule sagte: Die Mathematik, die ihr in der Schule lernt, verhält sich zur akademischen Mathematik wie der Tretroller zum Flugzeugträger.

Last uns das Triptychon metamathematischer Wahrheit vollenden! – Computer sind schon seit vielen Jahrzehnten sehr viel schneller im Rechnen als der Mensch, doch dank sogenannter »künstlicher Intelligenz« sind Computer heute auf dem Weg, auch im Denken 1. schneller, 2. tiefer und 3. präziser zu sein als der Mensch, und damit auch im mathematischen Denken. Bislang konnte man dem Computer sagen: »Rechne mir die Wurzel von x aus«, mit künstlicher Intelligenz kann man der Maschine sagen: »Finde mir heraus, welche Formeln und Fakten interessant wären, wenn ich dieses oder jenes Ziel erreichen möchte.«

Früher sagten Mediziner einem Roboter etwa: »Rühre mir diese Flüssigkeit eine halbe Stunde lang um!« – Bereits heute kann man dem Computer sagen: »Schaue dir diese Scans an und sage mir, welche davon nach Krebs aussehen« (siehe etwa forbes.com, 16.5.2017, und viele weitere) – in immer mehr Szenarios sind Maschinen präziser darin als die erfahrensten Ärzte; denn, vergessen wir nicht: Am Ende ist alles Mathematik, und da neue Maschinen nicht nur rechnen, sondern auch immer besser denken können, werden sie nach und nach in allem besser sein, auch im Denken, auch im Denken über die Mathematik.

So, Kinder – und jetzt macht eure Mathe-Hausaufgaben, es wartet viel Arbeit auf euch!

Das neue Öl

Wissen Sie noch, als man China als die »verlängerte Werkbank des Westens« bezeichnete? Das sollte bedeuten: Die im Westen sind kreativ und erfinderisch, und die nicht-so-kreativen Chinesen produzieren das kreativ Erfundene dann, für den Westen. Nun, China produziert noch immer die Smartphones, auf denen Westler ihre Empörung über den Westen kundtun, doch gleichzeitig besetzen sie das wichtigste Technologiefeld der Zukunft: denkende Maschinen, auch »künstliche Intelligenz« genannt. WIPO, die World Intellectual Property Organization der U.N., schätzt in einer aktuellen Studie, dass China innerhalb von wenigen Jahren die USA bei Forschung und Patenten zu künstlicher Intelligenz aufgeholt haben könnte (siehe reuters.com, 31.1.2019) – von Deutschland redet man nicht mehr wirklich. Daten sind »das neue Öl«, und in diesem Sinne ist China, sagt China, das neue Saudi Arabien. China plant, bis 2020 die USA bei künstlicher Intelligenz aufgeholt zu haben – mit der für China typischen Unbedarftheit etwa beim Datenschutz – erste eigene Durchbrüche bis 2025 vorlegen zu können und bis 2030 der Weltmarktführer bei künstlicher Intelligenz zu sein – Deutschland plant, sich selbst zu de-industrialisieren – na ja, zumindest bei der Einstellung zur Kritik an der offiziellen Wahrheit werden sich China und Deutschland zunehmend ähnlicher. Wir dürfen gespannt sein.

»Künstliche Intelligenz – Deutschland ist im internationalen Vergleich abgehängt«, so titelte welt.de, 30.1.2019, und »Künstliche Intelligenz – »Der Abgesang auf den Industriestandort Deutschland hat begonnen««, so welt.de, 2.4.2019.

Ansgar Hinz, Vorsitzender des Verbands Elektrotechnik, Elektronik und Informationstechnik (VDE), wird zitiert:

»Uns geht es offensichtlich zu gut um wahrzunehmen, dass der Abgesang auf den Industriestandort Deutschland bereits begonnen hat (…) Die Marke Made in Germany verblasst.« (Ansgar Hinz, zitiert nach welt.de, 2.4.2019)

(Siehe auch meinen Text im Januar: Made in Germany, wissen Sie noch? )

Während der deutsche Staatsfunk eine industriefeindliche Populistenpartei mit Endzeit-Wahn und Pseudo-Öko-Anstrich in die Regierung zu jubeln versucht, und während die deutsche Armee nicht einmal in der Lage ist, zuverlässige Regierungsflieger zu stellen (tichyseinblick.de, 1.4.2019), steigert China kontinuierlich die Schlagzahl bei der Forschung zur künstlichen Intelligenz (technologyreview.com, 13.3.2019) – und forciert sogar den Einsatz künstlicher Intelligenz in seinem Militär (cnas.org, 6.2.2019).

Die Warnungen bezüglich des deutschen Hinterherhinkens bei der künstlichen Intelligenz sind vergleichsweise kleine Schlagzeilen, und sie gehen im täglichen Strom deutschen Haltungsdurchfalls unter, doch dereinst wird man sich fragen, wie sie übersehen werden konnten.

Wille, Zeit und Fleiß

Daten sind »das Öl der Zukunft«, das stimmt, doch in einigen sehr wichtigen Eigenschaften unterscheidet sich dieses neue Öl, darunter: Die Fähigkeiten und Werkzeuge, die es braucht, um mit dem Schürfen dieses Öls loszulegen und erste echte Erfolge zu erzielen, sind – wenn man in einem Industrieland mit Computern und Internet lebt – unvorstellbar billig, nah an Null.

So könnte auch Ihr Einstieg in die künstliche Intelligenz klappen:

  1. Nehmen Sie sich einen Onlinekurs in Python vor, etwa bei codecademy.com oder einem der anderen Anbieter. – Ein Jugendlicher im Lernmodus wird vielleicht nur Tage brauchen, um einen echten Einsteig zu finden, die Älteren und Abgelenkten unter uns vielleicht ein paar Wochen.
  2. Erweitern Sie Ihre Kenntnisse mit einem der vielen Online-Kurse zu Machine Learning und zu Technologien wie Tensor Flow, etwa wieder bei Codecademy, oder mit Büchern, etwa von Packt Publishing.
  3. Suchen Sie zum Beispiel auf meetup.com nach Treffen von Leuten, die sich ebenfalls für künstliche Intelligenz interessieren.

Werden Sie dies unternehmen? Es ist nicht wenig, es ist aber auch nicht unüberschaubar! Sicher würde und wird ein Informatik-Studium helfen, und mancher sollte es anschließen, doch einen Einstieg kann man mit wenig mehr als Wille, Zeit und Fleiß bewerkstelligen.

Viele von Ihnen sind bereits im Berufsleben verankert und tragen Verantwortung, insofern haben Sie durchaus einen Grund, nicht alles stehen und liegen zu lassen, um als Programmierer gegen 25-jährige Chinesen anzutreten, die seit der Grundschule aufs Programmieren gedrillt wurden.

Die Frage ist, warum »die jungen Leute« es in Deutschland nicht tun. – Diese Frage lässt sich beantworten, und die Antwort ist leider recht einfach.

Schauen Sie einfach mal kurz in ein »Learn Python«-Video bei YouTube hinein. Sie werden dunkle Bildschirme und zunächst rätselhafte Wörter darauf sehen.

Was Sie beim Einstieg in die Python-Programmierung nicht finden, sind allzu viele Anlässe, sofort enthusiastisch oder euphorisch zu sein.

Wir haben von den Marshmallows gesprochen, und von den Kindern, die ihren Marshmallow sofort nahmen, und den anderen Kindern, die auf ihren Marshmallow verzichteten, um später mehr Marshmallows zu erhalten. – Programmieren zu lernen – und später nach Fehlern im Code zu suchen! – ist wie tage- oder wochenlang keinen Marshmallow zu bekommen, während alle um einen herum Marshmallows futtern, nur um am Ende, vielleicht, einen ganzen Teller voller Marshmallows selbst genießen zu dürfen.

Wer mit Teilnahmeurkunden und Smartphones aufwächst, wer lernt, dass die richtige Haltung belohnt wird und nicht die Mühe und harte Arbeit, der hat wenig Motivation, einer Tätigkeit nachzugehen, deren Belohnung für Monate und Jahre auf sich warten lassen kann, und dann längst nicht mehr unmittelbar mit der Tat in fühlbarem Zusammenhang steht.

Die Popularität der aktuellen Schulschwänzen-fürs-Klima-Mode und die schlechte Aufstellung Deutschlands bei Künstlicher Intelligenz haben dieselbe Ursache: man ahnt, dass die Zukunft erhebliche Veränderungen bringt, doch man sucht eine Art und Weise mit ihr umzugehen, die sofortige Triebbefriedigung bringt. Man »hüpft fürs Klima«, das sorgt für Dopamin und Endorphin, und man brüllt, wie verwöhnte Kinder es eben tun, dass die Erwachsenen »was tun sollen«, und dann hat man keine Lust mehr, wirft die Schilder ins Gebüsch und gönnt sich einen Hamburger mit Cola.

Deutschen Kindern wird von Schulen und Staatsfunk beigebracht, dass sie ein natürliches Anrecht auf sofortige Triebbefriedigung haben – also das vollständige Gegenteil dessen, was es braucht, um in künstlicher Intelligenz gut zu werden.

Lachen und Freudentränen

Wenn China ein Land wie Deutschland von innen schwächen wollte, müsste es nichts weiter tun, als einerseits seine eigenen Leute nachdrücklich zu Ingenieurwissenschaften, Informatik und Mathematik bewegen – und andererseits in Deutschland einen Staatsfunk und ein Bildungssystem installieren, das die Bürger lehrt, ihren Gefühlen und Lüsten zu folgen, statt demütiger Disziplin und der Hingabe an ein abstraktes, aber logisches Ziel. – Es ist keine Besetzung notwendig und auch keine Verschwörung; die Welt schaut erstaunt zu, wie eine linksgrüne Kaste die Deutschen dumm macht.

Der linksgrüne Siegeszug in Medien und Schulen war für Deutschland langfristig verheerender als der Einmarsch von tausend Panzern und zehntausenden Soldaten es gewesen wäre. Ein Einmarsch hätte Widerstand geweckt, die Verdummung und Emotionalisierung aber geschehen widerstandslos, ja, das suizidale Dumme wird mit Lachen und Freudentränen begrüßt.

Nur der, wer

Es ist immer wieder derselbe Graben, der sich durch den Westen zieht, und er manifestiert sich immer wieder neu.

Die einen wollen tun, was sich »im Moment« gut anfühlt, die anderen wollen das tun, womit sie in Jahren und Jahrzehnten zufrieden sein werden, und was deshalb realistisch sein muss. Die einen »zeigen Haltung« (fühlt sich gut an), die anderen denken es durch (kann unlösbare Probleme aufzeigen und Ärger einbringen).

Es gibt durchaus Einwände zum Marshmallow-Test, etwa den, dass Kinder aus sozial schwachen Verhältnissen eher dazu neigen, sofort nach dem Marshmallow zu greifen, weil sie die Not gewohnt sind, und »sicher ist sicher« denken – so wichtig solche Beobachtungen sind, so bestätigen sie im Grunde die ersten Ergebnisse: Die Zukunft gehört denen, die nicht von schneller Euphorie sondern von späterer Zufriedenheit motiviert werden.

Der Mensch ist bekanntlich ein Mängelwesen, und gerade im Angesicht abstrakter Zukunftstechnologien wird deutlich: Was der Mensch für die Zukunft braucht, ist nicht das, was ihm im Moment billigen Spaß bereitet.

Ich selbst tue auch weiterhin mein Bestes, meine Kinder, meine Leser und auch mich selbst zu motivieren, von der Zufriedenheit zum Schluss her zu denken (eine andere Formulierung: von der »Ordnung der Kreise« aus, siehe Relevante Strukturen). Ich achte darauf, dass die Kinder alle Hausaufgaben machen und dass das Programmieren ihnen nicht fremd ist. Und natürlich lernen sie Chinesisch.

Wir müssen uns schützen vor den Worten und den Taten der Tugend-Darsteller, der Journalismuspreisträger, der Haltungs-Deppen, der Zeichen-Setzer und der Talkshow-Applaus-Bettler.

Wer auf die schnelle Befriedigung verzichtet, wer die billige Bestätigung meidet, wem der wertlose Schulterklopfer und das tumbe Aufgehen in der dummen Wir-sind-mehr-Masse zuwider sind, wer an sich und der Wissenschaft arbeitet, statt nach Schuldigen und Entschuldigungen für seine Faulheit zu suchen, der und nur der wird später echte Zufriedenheit finden – und dann darf er sich auch einen Marshmallow gönnen, oder, wie wir sagen: Mäusespeck!

Weiterschreiben, Wegner!

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