Dushan-Wegner

22.03.2018

Kategorien vs. Schubladen

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild von Samuel Zeller
Wer die Welt besser machen will, muss die Realitäten realistisch benennen. Klingt simpel und banal, steht aber unter Beschuss. Unser Denken setzt auf Kategorien auf, und ist nur dann präzise, wenn die Kategorien zur Realität passen.
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Wenn ich einen Schwarzen sähe, und automatisch davon ausginge, dass er ein Bediensteter ist, wäre ich dann rassistisch?

»Aber natürlich, Rassist, Rassist«, werden jene brüllen, die nichts außer Erregung und Schubladendenken können.

Die Bedächtigen aber werden fragen: »Äh, Herr Wegner, das ist ein gefährliches Pflaster! Worauf wollen Sie hinaus?« – Ich will von einer Begebenheit erzählen, einem Detail.

Einmal, vor Jahren, genoss ich einen dieser All-Inclusive-Urlaube. Wer schon einmal an einer solchen spätkapitalistischen Unternehmung teilhaben durfte, der weiß, dass a) dort jeder ein Bändchen ums Handgelenk bekommt, welches ihn für unbegrenzte Nahrungs- und Getränkeaufnahme qualifiziert, und dass b) es relativ feste Zeiten für die Hauptmahlzeiten gibt, und in diesen Zeiten schwirrt Personal durch den Essensraum und kippt im Minutentakt neue Köstlichkeiten in die Tröge nach.

Ich erinnere mich an einen kurzen Moment in diesem Urlaub, da war ich überrascht und froh zugleich, und hinterfragte mich auch gleich wieder. Das war der Moment, von dem ich Ihnen hier berichte.

An einem Abend, etwa Mitte der zweiten Woche, saß ich also da und knabberte an den vierzig Köstlichkeiten auf meinem Teller wie ein Herr Creosote mit Sonnenbrand, und da sah ich aus dem Augenwinkel einen Schwarzen hereinkommen – und ich blickte auf. Dieser Schwarze hatte keine Hotel-Uniform an, aber dafür ein All-Inclusive-Bändchen. Und an seiner Seite war seine Frau, und im Schlepptau die beiden Kinder.

Es gäbe nun zwei Arten, meine Reaktion zu beschreiben.

Ich will Ihnen sagen, was in mir in dem Moment vorging: Es stimmte mich froh! Eineinhalb Wochen hatte ich im Hotel eine strikte funktionale Segregation erlebt: Schwarze bedienten, Weiße wurden bedient. Weiße gaben manchmal Trinkgeld, meist nicht, Schwarze sagten Dankeschön, ob es Trinkgeld gab oder nicht. Politisch korrekte Farbenblindheit zu simulieren ist allzu oft eine Lüge, und wäre es auch dort gewesen. Selbstverständlich fiel es auf, dass man die Rolle eines Menschen in diesem absurden Mikrokosmos anhand seiner Hautfarbe vorhersagen konnte.

War es ein »Vorurteil« von mir, oder die schlichte Fortführung des Musters, welches ich in den eineinhalb Wochen davor beobachtet hatte? Eineinhalb Wochen lang hatte ich erlebt, dass Schwarze bedienten und Weiße bedient wurden. Und jetzt stimmte es mich glücklich, dass dieses Muster aufgebrochen worden war.

We shall overcome

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, wie einer jener Aktivisten, die sich morgens erstmal die Empörungspickel ausdrücken und das Resultat zu Hashtags verarbeiten, meine frohe Überraschung als »Rassismus« abtun könnte.

Sie tun so, als ob meine frohe Überraschung irgendwie behaupten würde, Schwarze müssten aufgrund äußerer Eigenschaften dem Dienstpersonal angehören – ein solcher Vorwurf würde eventuell die eigenen, unterdrückten rassistischen Denkmuster des »Guten« auf den »bösen« Feind projizieren. Meine tatsächliche Denklogik ist eher: Ich will, dass sich alle Menschen auf Augenhöhe begegnen. Das wird schwer sein, wenn Angestellte und Gäste so klar erkennbar getrennt sind. Ich freue mich, für den Einzelnen und, ja, für die Menschheit, über jeden kleinen Schritt, der dazu führt, dass wir uns auf Augenhöhe begegnen.

Krieg der Kategorien

Ich arbeite mich auch weiterhin daran ab, den Graben, der sich durch die westliche Gesellschaft zieht, zu verstehen – um dann meinen kleinen Anteil zu leisten, ihn zu überbrücken. (Meine bisherigen Ansätze dazu können Sie etwa in Eine Brücke über den großen Graben lesen, in Mensch vs. Gehorsam und in Es ist kompliziert.) Heute will ich einen weiteren Versuch wagen.

Damit wir Menschen im Alltag funktionieren können, brauchen wir Kategorien und Begriffe. Wie etwa Jeff Hawkins im Buch On Intelligence gut verständlich erklärt, ist der menschliche Geist eine Vorhersage-Maschine.

Das Gehirn wäre, so Hawkins, heillos überfordert, jede einzelne eintreffende Information ausführlich zu bearbeiten. Es ist viel effektiver für den Geist, ein Modell des Erwarteten zu erstellen und das, was tatsächlich passiert, mit dem Modell abzugleichen. Wenn Sie etwa eine normale Treppe heruntergehen, erwarten Sie unbewusst eine bestimmte Höhe jeder einzelnen Treppenstufe. Es passiert aber schon mal, dass eine einzelne Stufe etwas höher oder niedriger ist als die anderen. Sobald Ihr fürs Gehen zuständiger Teil des Geistes merkt, dass ein Detail anders ist als das Modell es vorhersagte, gibt er Alarm und übernimmt automatisch das Bewusstsein. (Ich habe hier übrigens bewusst »Geist«, nicht »Hirn« gesagt, denn es geht mir um die Inhalte des Denkens, die Philosophie – die Neurologie überlasse ich den Neurologen.)

Es ist nicht möglich, nicht in Kategorien zu denken, was sollte ein Denken ohne Kategorien auch sein? Selbst die Vorform des Denkens, das Fühlen, neigt dazu, sich in Kategorien auszuformen, sobald es reflektiert ist. (Gehört das Grummeln im Bauch in die Kategorie Wut oder in die Kategorie Angst?)

Das Denken in Kategorien schützt uns vor Gefahr (wenn etwas aus der Kategorie LKW auf dich zufährt, wird es gefährlich, und damit meinen wir nicht, dass der überschwappende Glühwein dich verbrüht); das Denken in Kategorien ernährt uns (Baumfrüchte aus der Kategorie Apfel sind gut für dich, Pilze aus der Kategorie Fliegenpilz eher nicht).

Nun erleben wir, angetrieben von interessierten Stiftungen und post-wissenschaftlichen Uni-Seminaren, einen Krieg der Kategorien.

Sie wollen die offensichtlichen Kategorien, die Menschen aus der direkten Beobachtung des Alltags heraus gebildet haben, durch künstliche, an der Universität und in Think-Tanks entwickelte Kategorien ersetzen.

Manchmal ist die Neu-Vergabe von Kategorien vor allem unterhaltsam: Wer, wie ich, einen Sohn und eine Tochter hat, und vor sich sieht, wie sich die beiden Geschlechter ganz natürlich gemäß der zu erwartenden Wege entwickeln, der ist eher amüsiert davon, wenn abgedrehte Akademiker von 999 Gendern (Gender = »soziales Geschlecht«) spekulieren. (Jedoch: In der Philosophie haben wir die reale Existenz »möglicher Welten« diskutiert, insofern hat mein Schmunzeln auch etwas Verstehendes.)

Manchmal allerdings ist die künstliche Umformung der Kategorien »von oben« schlicht gefährlich. Über Jahrtausende hat es sich bewährt, Menschen aus fremden Kulturkreisen freundlich, aber vorsichtig zu begegnen. Im Zug der Refugee-Welcome-Euphorie gerieten Vorsicht und Distanz in den Ruf des Rassismus – praktisch jede Kategorisierung, die implizierte, dass Männer aus Nordafrikas Krisengebieten wahrscheinlich andere Werte verinnerlicht haben als deutsche Einfamilienhausbesitzer in dritter Generation, galt als »rechts«. Und dann starben Menschen – siehe dazu auch: Seid’s ihr völlig deppert?!

Wer Kategorien künstlich erfindet, der übersieht drohende Gefahren. Man hat sich etwa überzeugt, es gäbe keinen Rassismus gegen Weiße, und so gibt es keine Kategorie dafür, was im Moment in Südafrika passiert – also wird es nicht berichtet.

Den Kategorien-Graben überwinden

Ich möchte von guter Absicht ausgehen, bei mir selbst und bei jenen, gegen die ich argumentiere.

Wir sehen beide, dass die Welt von Ungleichheit zerrissen ist. Ich zumindest sehe, dass Menschen einander und sich selbst Leid zufügen.

Wir wollen beide dieses Leid überwinden, doch wie wir es angehen ist deutlich unterschiedlich.

Ich möchte die Kategorien realistisch benennen, und dann realistische Wege suchen, sie zu überwinden.

Jene möchten am grünen Tisch neue Wunschkategorien entwickeln, und mich dann via social engineering zwingen, in einem großen Schauspiel deren frei erfundene Kategorien zu verwenden, als ob die Welt so wäre, wie sie es beschreiben.

Wie Realisten die Welt besser machen

Wer die Welt besser machen will, muss zuerst ihre Missstände realistisch anerkennen. Es klingt banal, doch es wurde 2015 für rechtspopulistisch erklärt. Vergessen wir nicht: 2006 titelte Der Spiegel noch »Der Heilige Hass« und 2007 warnte er vorm »Mekka Deutschland« – die Hamburger haben etwas Pendelartiges an sich. Kategorien wurden künstlich und an der Realität vorbei zwangsverändert.

»Alle Menschen werden Brüder« heißt es bei Schiller. »Alle Menschen sind schon Schwestern und Brüder« heißt es aus Berlin und Brüssel, und wer dies aufgrund täglicher Messerangriffe anzweifelt, der ist zu ächten.

Nein, Kategorien sind nützlich und natürlich, und wir müssen sie täglich hinterfragen. Die Kategorie, die wir nicht selbst hinterfragen und wir nicht hinterfragen lassen, wird zur Schublade.

Solange wir uns der Grobheit und dauernden Vorläufigkeit der Kategorien bewusst sind, bleibt immer Raum für die einzelnen Individuen und für die Menschlichkeit.

Es bringt nichts, in Phantasie-Kategorien zu schwelgen. Ich will, dass meine Kategorien realistisch und wahrhaftig sind. Ich will anhand meiner Kategorien stimmige Vorhersagen über die wahrscheinliche Zukunft treffen. Ich will die Welt verstehen wie sie ist, und ich nehme dafür in Kauf, von gewissen Verbiesterten in ihre so nichtssagenden wie böswilligen Schubladen gesteckt zu werden.

Die einen wollen die Welt zum Besseren verändern und ob ihre Sprache dabei »politisch korrekt« ist, könnte ihnen nicht egaler sein. Die anderen lassen die Welt ins Chaos abgleiten, während sie aus der Knetmasse ihrer Langeweile immer noch Wortfigürchen formen. Ich will, dass Menschen zusammenkommen und einander aus diesem Schlamassel helfen, welcher die menschliche Existenz nun einmal ist. Und ich freue mich jedes Mal, wenn es gelingt, überkommene Kategorien und Abgrenzungen ganz praktisch zu überwinden.

Man kann sich einreden, die Welt sei schon gut – oder man kann sie realistisch bewerten und dann besser machen. Es ist unsere Entscheidung, und diese Entscheidung ist ziemlich dringend.

Weiterschreiben, Wegner!

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