Dushan-Wegner

05.05.2018

Wer Karl Marx feiert, hat nie im Sozialismus gelitten

von Dushan Wegner, Lesezeit 7 Minuten, Bild von Hannes Wolf
In diesem Jahr wird der 200. Geburtstag von Karl Marx »gefeiert«. Es ist ein Schlag ins Gesicht aller, die im Sozialismus bedrängt und verfolgt wurden.
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Ich möchte Ihnen ein Zitat vorlegen. Es ist ein schreckliches Zitat, aber Sie sollten es kennen. »Es ist mir jetzt völlig klar, daß er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, – von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlössen (wenn nicht seine Mutter oder Großmutter von väterlicher Seite sich mit einem nigger kreuzten). Nun, diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt her vorbringen. Die Zudringlichkeit des Burschen ist auch niggerhaft.«

Von wem, meinen Sie, stammt dieses Zitat? Adolf Hitler? Joseph Goebbels? Nein. Es stammt von einem Mann, der in diesem Jahr viel gefeiert wird. Der EU-Kommissionspräsident hat ihn gepriesen, im Fernsehen berichten sie von Feiern zu seinem zweihundertsten Geburtstag. Das Zitat stammt aus einem Brief an Friedrich Engels, geschrieben, datiert auf den 30. Juli 1862, von Karl Marx.

Dies ist ein Text über die Karl-Marx-Feiern, lassen Sie mich aber zunächst über eine Begebenheit berichten, die mich damals erschütterte.

Pein in Flammen

Es war ein Sommer noch vor der Jahrtausendwende. Das Wetter war den ganzen Tag so gewesen, wie es Rudi Carrell im »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer« besingt. Mit Eis am Stiel und Schwimmen im Bleibtreusee.

Dieser Abend aber sollte ein »Highlight« im buchstäblichsten Sinne werden. »Rhein in Flammen« stand an.

Für die, die es nicht kennen: Rhein in Flammen ist ein großes Feuerwerk, das jährlich über verschiedenen Abschnitten des Rheins abgebrannt wird. In der Bonner Rheinaue wird dazu ein großes Volksfest gefeiert, mit Essen und Bühnen und vielen fröhlichen Menschen. Das war, wohin wir fröhlich und erwartungsfroh aufbrachen.

Unter uns waren einige Flüchtlinge, und es war die Zeit, als »Flüchtlinge« zuverlässig auch Flüchtlinge meinte. Es waren Menschen, die unter unvorstellbaren Strapazen aus dem Jugoslawien-Krieg geflohen waren. Wir Kölner dachten, dass es eine gute Idee wäre, die neuen Freunde mal auf andere Gedanken kommen zu lassen – wir luden sie zu einem großen Spektakel mit Böllern und Explosionen ein.

Es war ein Fehler. Im Nachhinein ist es klar, dass man hätte ahnen können, was passieren würde. Im Nachhinein.

Im Dunkeln, aber doch im Licht der Lampen, liefen wir gemeinsam zwischen den Ständen und Musikanten umher. Viele Menschen waren dort. Ein fröhlicher Sommerabend.

Das Feuerwerk setzte ein. Wunderbar! Hoch über uns, eine Rakete nach der anderen. Böller, Donnerschläge, Glitzer und Funken überall.

Viele »Wows!« und »Ahs!« wurden in der Rheinaue geraunt.

Die Jugoslawienkrieg-Flüchtlinge aber sagten weder »Wow!« noch »Ah«. Sie reagierten anders. Sehr anders.

Einer setzte sich auf den Rasen und hielt sich die Ohren zu. Eine weinte. Sie war mit ihrer Familie durch Tunnel geflohen, während über ihr die Granaten pfiffen. Einer, der selbst gekämpft hatte, zitterte bloß.

Zu den dümmeren Aktionen meines Lebens gehört es, mit kriegstraumatisierten Menschen zu einem Feuerwerk zu gehen, mitten unter die Raketen.

Karl Marx hat ihn erfunden

Als meine Familie nach Deutschland kam, verwunderte es meine Eltern sehr, dass ein Feiertag, den sie als zutiefst kommunistisch, ideologisch und oppressorisch erlebt hatten, auch in Deutschland so intensiv gefeiert wurde.

Es ging ihnen nicht um die Geschichte des ersten Mai, als traditioneller Tag der Streiks und Kundgebungen durch Arbeiterbewegungen. Sie wussten auch nicht, dass in Deutschland der Erste Mai erst von Adolf Hitler 1933 als gesetzlicher Feiertag eingeführt wurde. Es war mehr eine Verwunderung darüber, dass im angeblichen Kapitalismus ein Fest gefeiert wurde, das sie als Hochamt der Unterdrückung durch ein diktatorisches System erlebt hatten. Aber gut, in anderen Ländern haben Symbole andere Bedeutungen – hoffentlich, angeblich.

Man hatte sich über die Jahre daran gewöhnt.

Dieses Jahr, 2018, aber ist ein Detail anders, und es ist nicht nur der 1. Mai, es ist das ganze Jahr, und Samstag der 5. Mai sowieso.

Dieses Jahr, am 5. Mai, wäre der zweihundertste Geburtstag von Karl Marx. Er wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren.

In sozialistischen Ländern wie der CSSR wurden Kinder bereits im Kindergarten-Alter gezwungen, öffentlich Marx, Engels und Lenin zu huldigen.

Man musste Bilder von Marx, Engels und Lenin umhertragen. Man musste öffentlich ausrufen: »Es lebe Karl Marx! Es lebe Friedrich Engels! Es lebe Wladimir Iljitsch Lenin!«

Im Namen von Marx wurden Menschen verfolgt und gefoltert. Kommunismus ist die Hölle und Karl Marx hat ihn erfunden.

Vergessen und verbraucht

Jean-Claude Juncker, der fröhliche EU-Kommissionpräsident, hat davor gewarnt (schreibt die FAZ am 4.5.2018 http://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/juncker-marx-nicht-fuer-verbrechen-des-kommunismus-verantwortlich-15574763.html), Karl Marx für die Verbrechen des Kommunismus verantwortlich zu machen. Er sei ein Philosoph gewesen, der in die Zukunft hineingedacht habe.

Unterscheidet sich Marx von Platon vor allem darin, dass er das Pech hatte, dass seine politischen Ideen auch tatsächlich realisiert wurden – und dass die, die seine Ideen umgesetzt hatten, ihn alle falsch verstanden hatten?

»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an sie zu verändern«, sagte Marx in seinen »Thesen über Feuerbach«. Er würde sich selbst gegen die »er ist doch bloß ein Philosoph«-Verteidigung verwehren. Marxens Thesen waren radikal und wollten direkt umgesetzt werden. Sie wurden bestmöglich umgesetzt und die Folge war Leid.

Man könnte die marxschen Thesen diskutieren, von seiner primitiven Geschichtsdeutung (alles ist Klassenkampf) bis hin zu seinen antisemitischen Anwandlungen (das eingangs erwähnte Zitat ist nicht das einzige), von seinen Vorhersagen ohne Begründung bis hin zu seinem »ökonomischen Determinismus«, der die Rolle des individuellen Menschen auf einen Spielball äußerer Mächte reduzieren will. Karl Popper nannte Marxens »historischen Materialismus« quasi-religiös, eine orakelnde Pseudowissenschaft. All das – allein seine substanzlosen Vorhersagen – müsste eigentlich genügen, Zweifel am Marx-Kult aufkommen zu lassen.

Doch, es ist mehr. Ja, das Problem der marxschen Schriften ist auch und wesentlich ihre Wirkungsgeschichte.

Marx tritt als Dogmatiker auf, der keine Gegenthese duldet. Wer ihm widerspricht, kann nur bösartig oder ein Idiot sein. Seine Anhänger treten, bis heute, genauso auf. Erinnern wir uns nur daran, wie die SED-Nachfolgepartei »Die Linke« gewissen rassistischen, homophoben Massenmördern aus Kuba huldigt, wenn ihr Morden nur »kommunistisch« begründet ist.

Die Schriften des Marx dienten seit jeher denen als Entschuldigung, für die der Andersdenkende der Feind ist, den es zu vernichten gilt – und mit »vernichten« ist nicht wirklich »mit Argumenten überzeugen« gemeint. In kommunistischen Staaten, etwa der DDR, wurden regelmäßig Menschen, die allzu sehr von der Einheitsmeinung abwichen, in Psychiatrien zwangseingewiesen. Heutige Linke schreiben gern allen, welche die Welt anders sehen als sie, Phobien und andere psychische Störungen zu. Marxismus ist nicht die einzige, aber in der Geschichte mit etwa 100 Millionen die mit Abstand tödlichste und menschenverachtendste Ideologie.

Wenn Sie auf einem Klavier einen Ton anschlagen, schwingen immer viele Obertöne mit. Wenn Sie »Karl Marx« sagen, schwingen immer Rassismus und Verfolgung mit.

Ein größeres Problem

Alle diese Kritik an Marx wäre noch immer inhaltlicher Natur. So intolerant und ideologisch Marx ist, so schrecklich die Folgen seines Schreibens sind, es sind noch immer Inhalte, die wir bislang kritisierten.

Der Marx-Kult hat eine weitere Ebene.

Die geschichtsvergessene Verehrung des intoleranten Ideologen Karl Marx ist ein Schlag ins Gesicht aller Opfer kommunistischer Gewaltherrschaft. Es ist frei von jeder Empathie und in solcher Empathielosigkeit bemerkenswert – dass aber Linke und Empathie wie Öl und Wasser sind, das haben wir bereits festgestellt.

Es ist offensichtlich, dass Menschen, die aus kommunistischen Ländern geflohen sind, nicht zu den Lieblingsflüchtlingen der Berliner Meinungsmacher gehören. Die Karl-Marx-Feierlichkeiten aber sind eine Verhöhnung aller Opfer der von Marx inspirierten Gewaltherrschaft. China erlaubt sich einen praktischen Scherz und schenkt Trier eine Marx-Statue, und Trier entblödet sich nicht, diese auch noch aufzustellen.

Nun ist die Frage: Handeln die Marx-Huldiger mit böser Absicht? Einige ohne Zweifel, aber für die Freunde des postmonarchischen Absolutismus ist sowieso jeder einzelne Tag ein Karl-Marx-Tag.

Nicht wenige Menschen sehnen sich, auch heute, nach der einen großen »Wahrheit« mit dem extra großen »W«, besonders jene, die sich als »Intellektuelle« fühlen und doch wenig mehr als ihren Presseausweis aufzubieten haben. Marx bietet an, eine solche Wahrheit zu liefern. Zu viele sehnen sich nach einer Entschuldigung für ihr eigenes Versagen. Wenn man selbst zu faul oder zu dumm ist, oder einfach Pech hatte, dann kann man die Schuld fürs eigene Versagen auf das System, das Kapital, oder, wie Marx, auf »Spekulanten« schieben. Für Politiker wie Juncker aber ist ein »Philosoph mit Gestaltungsanspruch« vielleicht aus ganz anderen Gründen eine interessante Figur.

Karl Marx ist das Gegenteil dessen, was die Gesellschaft heute braucht. Marx spaltet mit seinen intoleranten Thesen, seinem Anspruch auf Unfehlbarkeit. Das jüngste Opfer seiner These ist Venezuela. Ich kenne Menschen aus Venezuela. Einen habe ich auf Karl Marx angesprochen – seine Reaktion war, sagen wir, zugleich bitter und nicht von der allerfeinsten Wortwahl.

Es gibt eine Reihe von Gründen, die Marx-Feierlichkeiten als unerträglich zu empfinden. Von der unsäglichen Person selbst bis zur mangelnden Empathie für die Opfer des Kommunismus. Im Angesicht von Kommunismusflüchtlingen heute Marx zu feiern, das ist wie mit Kriegsflüchtlingen ein Feuerwerk zu besuchen, nur eben organisiert und eventuell dann doch mit Absicht. Wer in seiner Kindheit von den Schergen der Kommunistischen Partei gezwungen wurde, »Es lebe Karl Marx« zu deklamieren, wer im Namen von Karl Marx verfolgt und drangsaliert wurde, dem fehlen die Worte für die neuen deutschen Karl-Marx-Festspiele.

Ein Grund jedoch würde bereits genügen: Karl Marx ist das exakte Gegenteil dessen, was ein zerrissenes Land in schwieriger Zeit braucht. Wir brauchen Einigung statt Spaltung, Verstand statt Ideologie, und statt der Überheblichkeit der Marxisten brauchen wir den Willen, sich selbst immer wieder zu hinterfragen.

Weiterschreiben, Wegner!

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