Dushan-Wegner

23.11.2018

Die Asyl-Debatte läuft Jahrzehnte zu spät – was ist die nächste Debatte?

von Dushan Wegner, Lesezeit 5 Minuten, Bild von Vidar Nordli-Mathisen
Sorry, Merz, Spahn und Co: Die heutige Asyl-Debatte ist irrelevant – sie kommt 10 Jahre zu spät. Die nächste große Frage ist, wie bitteschön Menschen mit inkompatiblen Wertesystemen zusammenleben sollen?! Aber ja, wartet wieder, bis es längst zu spät ist…
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Das Haus brennt, man sieht die Flammen drei Straßenzüge weit, und was tut der kluge deutsche Politiker? Richtig, er kassiert erstmal seine Diäten, dann stellt er vier Brüder als Berater ein, dazu zwei Cousins und einen senilen Dackel, und schließlich, wenn schon längst die ersten Setzlinge ihre Wurzeln in die Asche des niedergebrannten Stadtteils getrieben haben, beschließt die Kommission vorläufig, dass es eine gute Idee wäre, eine Feuerversicherung zu kaufen, und in der nächsten Wahlperiode vielleicht sogar ein Feuerwehr-Auto!

Viel zu spät

Der Kanzlerkandidatkandidat Friedrich Merz hat, und dann hat er auch nicht, das deutsche Asylrecht zur Debatte gestellt (siehe z.B. welt.de, 22.11.2018). Es ist ein Skandal, was ihn Schwäche zeigen und dann doch zurückrudern lässt (siehe z.B. focus.de, 22.11.2018). Es ist auf traurige Weise lächerlich, denn es beweist, wie aus der Zeit und Realität gefallen die politisch-mediale Kaste ist.

Heute das Asylrecht zu diskutieren, das ist ein wenig wie wenn die Titanic schon zur Hälfte unter Wasser ist, die Schiffsoffiziere aber noch immer diskutieren, wie man mit Eisbergen umgehen soll.

Die Regierung will, etwa eine Woche nach der Unterwerfung unter den UN-Migrationspakt, im Kabinett das »Fachkräfteeinwanderungsgesetz« abnicken lassen (spiegel.de, 22.11.2018) – derweil gibt es an ersten Erstklassen-Jahrgängen einen Daheim-nicht-Deutsch-Sprecher-Anteil von, ja, mehr als 99% (bild.de, 20.11.2018).

Heute zu debattieren, in der Zukunft die Einwanderung zu regulieren, das ist wie wenn der Zeppelin Hindenburg längst lichterloh brennt, doch die klugen Herren an Bord des Zeppelins im Rauchersalon (ja, den gab es) zu erwägen beginnen, die Gefahr von Korona-Entladungen für das Wasserstoff-Luft-Gemisch mit Regulierungen in den Griff zu bekommen.

Das Adjektiv »absurd« bedeutet, laut Duden: »dem gesunden Menschenverstand völlig fremd«. In Südafrika werden weiße Farmer ermordet während die ANC-Führung reich und reicher wird, während der deutsche Präsident an der Realität vorbei von der »Regenbogennation« Südafrika redet – eine doch etwas absurde Schönfärberei.

Wie ver-rückt ist die Weltwahrnehmung Berliner Eliten? Sogar die der Realität nicht unbedingt jederzeit nahe Hillary Clinton rät den Europäern, die Einwanderung zu begrenzen. So abgedreht zu sein, dass sogar Hillary Clinton dich zurückpfeift, das ist keine geringe Leistung!

Anti-Gretzky

Die Probleme, die heute debattiert werden, wurden ja auch schon vor buchstäblich über einem Jahrzehnt gesehen und diskutiert – ob von Helmut Schmidt, von Friedrich Merz oder von der großen Kaputtmacherin selbst!

Die Berliner Elite läuft nicht dahin, wo der Puck sein wird, sondern dahin, wo er vor 10 Jahren war. Sie öffnen die Grenzen und debattieren dann die Einwanderung. Sie zünden das Haus an und debattieren dann den Feuerschutz.

Betrunkener, der unter Laterne sucht

Wenn wir uns schon an alten, halb-durchgetragenen Berater-Metaphern erfreuen, hier ist noch eine: Ein Polizist sieht einen Betrunkenen, wie er auf allen Vieren um eine Laterne herumkrabbelt.

»Was treiben Sie?«, fragt er.

»Meinen Schlüssel«, lallte der Besuffski.

Der Polizist ahnt etwas. »Ja, wo haben Sie ihn den verloren?«, fragt er.

»Drüben im Gebüsch«, sagt der Kriechende.

»Und warum suchen Sie dann hier?«

»Na, ist doch klar«, erklärt der Suchende, »drüben ist es dunkel und hier ist Licht!«

So ähnlich ist es mit der Berliner Elite. Sie debattieren die Fragen, die vor 10 Jahren anstanden – weil ihnen schlicht die Kapazitäten, die Perspektiven und der Mut fehlen, zu diskutieren, was heute wirklich ansteht.

Die Berliner Elite diskutiert über Regeln und Grenzen und Sicherheit, weil ihre Weisheit und Reflexionsgabe kaum mehr Tiefe als eine Schuhschachtel haben. Sie reden von Gesetzen und Initiativen, weil sie schlicht zu blind sind, zu sehen, was Menschen wirklich bewegt.

Die nächsten Fragen sind philosophisch

Die drängendsten Fragen der Zukunft sind philosophisch. Ob in der Technik: Wer trägt Verantwortung, wenn ein selbstfahrendes Auto einen Menschen plattfährt – und wen soll ein »allwissendes« Auto, wenn es sich nicht vermeiden lässt, umfahren – die Großmutter oder das Kleinkind? Wie gehen wir damit um, dass Teile einer ganzen Generation (die »Social Justice Warriors«) durch Soziale Medien den Bezug zu den realen Mechanismen der Welt verloren hat, und ihre ethischen Meinungen anhand von »Clickbait« formt (Clickbait sind an basale Reaktions-Instinkte appellierende Internet-Meldungen) – ist das ethische Urteil eines dopaminsüchtigen Social-Media-Junkies wirklich gleich viel wert wie etwa das Urteil eines gefestigteren Menschen, der im Leben etwas erfahren und etwas aufgebaut hat?

Die drängendste, und teilweise buchstäblich brennendste, Frage aber, an die sich die Großkopferten nicht herantrauen, lautet: Wie geht eine säkulare Gesellschaft mit Religionen um, wenn »Ungläubiger« für die Gläubigen ein maximal abwertendes Schimpfwort ist?

Was bringt die Ehe für alle, wenn öffentlich schwul zu sein gefährlich wird? Was bringt schnelleres mobiles Internet, wenn auf den Smartphones der Hass auf die »Ungläubigen«, die das Internet bereitstellten, verbreitet wird? Was nutzt eine Innenstadt ohne Stickoxide, wenn Messer die eigentliche Todesgefahr darstellen? Was bringt es, Schulen zu digitalisieren, wenn die digitalisierten Kinder außerhalb der Schule ebenso digital lernen, den Westen zu verachten?

Das Eis wird bereits abgetaut

Das Haus brennt, man sieht die Flammen drei Straßenzüge weit, und die Berliner Elite diskutiert, ob man nächstes Jahr einen Feuerwehr-Gründungsausschuss andenken sollte.

Die Asyl- und Migrationsdebatte, wie wir es etwa derzeit beim Wer-wird-die-nächste-Merkel-Kasperletheater aufgeführt bekommen, wäre vor zehn oder zwanzig Jahren adäquat gewesen. Berlin fährt dem Puck hinterher, doch das Eishockey-Spiel ist längst abgepfiffen, die Schlittschuhe sind ausgezogen und das Eis wird abgetaut.

Die nächste große Frage ist, ob und wie man gemeinsame ethische Werte fürs Zusammenleben findet, wenn die eine Seite in archaischen Gläubiger-Ungläubiger-Mustern denkt und die andere sich in infantil debiler Naivität eingerichtet hat.

Ich war bereits vor zehn Jahren der Meinung, dass die große Zukunftsfrage der Gesellschaft die Frage nach der Entstehung ethischer Meinungen ist – deshalb widme ich alle meine Kraft dem Schreiben und Reden genau darüber (und versuche, »Relevante Strukturen« auf die Nachttische der Republik zu bekommen!) – ich halte es heute mehr denn je für die dringlichste und umfassendste der Zukunftsfragen. Andere Themen wie Digitales oder Künstliche Intelligenz ändern die Frage nach der Entstehung ethischer Gefühle nicht, sondern verschärfen vielmehr ihre Dringlichkeit um ein Vielfaches.

Heute diskutieren sie in Berlin, was vor zehn und zwanzig Jahren hätte diskutiert (und entschieden!) werden sollen. In zehn Jahren werden sie diskutieren, was heute wichtig ist. Gut, dass wir freie Medien haben, in denen wir die wirklich wichtigen Fragen diskutieren können.

Weiterschreiben, Wegner!

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