Dushan-Wegner

02.03.2018

Irgendwem musst du dienen, mein Sohn

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Karsten Würth
»Irgendwem wirst du dienen müssen«, sage ich zum Sohn, »sei es dem Teufel oder dem Herrn, wie Bob Dylan singt, irgendwem aber musst du dienen.« – »Okay«, sagt Leo, »und bekomme ich dann ein Eis?«
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Als ich ein Kind war, nicht wusste wo aus noch ein, da lebte meine Familie eine Zeit lang in Bayern, in der Nähe der Voralpen.

Irgendwem musst du dienen, mein Sohn
Ihr Autor, an der Seite seiner Schwester, übers Erhabene sinnierend

Am Wochenende und an freien Tagen ging es regelmäßig zum Wandern in die Wälder und hoch ins Gebirge. Unser häufigstes Wandergebiet war der Wendelstein, samt dem Gipfel und den Wäldern drumherum. Einmal fand ich sogar zwischen den Bäumen den Schädel eines Rehs! (Ich durfte den Schädel nicht mitnehmen.)

Ich hatte damals einen Wanderstock und wenn wir eine neue Attraktion besuchten, gab es dort stets ein kleines, buntes Bild, eine Art Blechwappen zu kaufen. Man nennt sie »Stocknägel«. Diese Stocknägel wurden mit Nägelchen am Holz befestigt und so wuchs die Sammlung bunter Wappen mit jeder bayerischen Attraktion und jedem Dorf, das wir besuchten, weiter an. Ich wollte natürlich möglichst viele Stocknägel auf meinem Wanderstock festnageln! Heute nennt man so etwas »Gamification« und Kinder sammeln digitale Auszeichnungen (»Badges«) auf ihren iPads. Ich weiß gar nicht, wo der Wanderstab abgeblieben ist – oder die Jahre.

Später, als junger Mann

Mein Großvater und mein Vater waren damals stets äußerst berührt vom Majestätischen der Berge. Sie schwärmten von der Erhabenheit der Natur, von der Schönheit der Täler – und immer wieder auch von der guten Luft. Mein Vater schwärmt noch immer. Mein Großvater lebt nicht mehr.

Irgendwem musst du dienen, mein Sohn
Gruppenbild mit zukünftigem Essayisten, auf halber Höhe des Wendelsteins

Ich habe als Kind nicht verstanden, was so toll sein soll am Ausblick ins Tal. Später dann ja. Später, als junger Mann (also »junger Mann« im Wortsinn, nicht in der heutigen Bedeutung »Schlägertyp, dessen Herkunft wir verschleiern möchten«), als junger Mann begriff ich dann, wovon meine Väter beim Blick vom Gipfel redeten.

Ich erinnere mich daran, als ich einmal mit Freunden am Grand Canyon war. Wir waren in der Nacht mit dem Auto angekommen, und meinten, wir seien irgendwie in der Nähe der berühmten Schlucht, doch wir wussten nicht, wo genau. Es war ja mitten in der Nacht, und es war vollkommen finster. Wir sahen nur, dass es ein Parkplatz war. Wir schliefen auf der Motorhaube, in Schlafsäcken. (Es war ein Lincoln Continental Mark IV, Baujahr 1976. Bei denen konnte man noch auf der Motorhaube schlafen, die waren solide. Damals war sowieso Vieles viel entspannter.) Das Klicken von einem Dutzend Fotoapparate weckte uns. Um uns herum stand eine japanische Reisegruppe und fotografierte uns junge Männer, die wir auf der Motorhaube schliefen. Als wir sie anblinzelten sagten sie »Solly, solly!« und wichen wie ein Vorhang zur Seite. Vor uns erstreckte sich der Grand Canyon. Wir hatten in der Nacht nicht »in der Nähe«, sondern direkt am Grand Canyon geparkt. Direkt. Es war erhaben, majestätisch, groß. Man fühlte sich klein und mickrig, und doch war es nicht bedrückend, sondern erhebend.

Fehlläuten der Nachtglocke

Nicht jede Überwältigung durch schiere Größe ist gleich positiv, erhaben und erhebend.

Franz Kafka beschrieb die Bedrückung durch vereinnahmende Strukturen besser als irgendein anderer Sterblicher. (Mein »Problem« mit Kafka: Seine Sprache ist so vollkommen, dass wenn ich ihn eine Zeit lang lese, mein eigenes Schreiben danach klingt wie einer, der gerne Kafka wäre. Ähnlich wie Philosophie-Erstsemester immer eine Zeit lang verführt sind, ihre Gedanken als nummerierte Sätzchen im Wittgenstein-Stil abzufassen.) Wer Das Schloss von Franz Kafka gelesen hat, der wird bei manchem Behörden-Besuch überlegen, ob nicht er selbst der Landvermesser K. sei. Wer unter seinem Elternhaus leidet, wird sich mit Kafkas »Brief an den Vater« oder »Die Verwandlung« identifizieren. Wer sich erdrückt fühlt von der Fülle der Möglichkeiten, sein Leben zu gestalten, und doch ahnt, dass er die eine, richtige Wahl zu treffen sich nicht traut, für den könnte »Vor dem Gesetz« ein erstes Vademekum darstellen. Wer jemals so krank war, dass er sich der Hilflosigkeit der Ärzte ausgeliefert fühlte, und sich zu fragen begann, wer nun wen heilen solle, der könnte in seiner Erklärungsnot beginnen, die Schuld für seine Krankheit bei sich selbst zu suchen, und so würde er mit Kafkas Landarzt ausrufen: »Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen.« – Selbst die eigenen Entscheidungen, die ja eigentlich Quell und Wesen der Freiheit bilden sollen, werden bei Kafka zum bedrückenden, erdrückenden System.

It may be the devil

Es ist dem Menschen angeboren, Teil von etwas Größerem sein zu wollen.

Es macht mehr Spaß, Fußball in der Gruppe zu schauen als allein, aber auch allein fühlt sich der Fußballfan als Teil von etwas Größerem. Parteien und Vereine motivieren Menschen, umsonst für sie zu arbeiten (und so nebenbei die sechsstelligen Gehälter von NGO-Vorständen möglich zu machen), weil die Mitglieder im Gegenzug das Gefühl erhalten, Teil von etwas Großem und Wichtigem zu sein. Viel Gutes und viel Böses wurde angerichtet mit diesem Drang des Menschen, ganz in Größerem aufzugehen.

Bob Dylan singt:

But you’re going to have to serve somebody, yes indeed
You’re going to have to serve somebody
Well, it may be the devil or it may be the Lord
But you’re going to have to serve somebody
Bob Dylan, Gotta Serve Somebody

Übersetzung: »Irgendwem musst du dienen, oh ja! Irgendwem muss du dienen. Nun, es kann der Teufel sein oder es kann der Herr sein, aber irgendwem musst du dienen.«

Es ist nichts an sich Gutes daran, in etwas Größerem aufzugehen, und auch nichts an sich Schlechtes.

Wellen des Meeres

Irgendwem musst du dienen, mein Sohn
Wanderer mit Schwester und noch ungeschmücktem Wanderstab

Die Religion ist schon lange zum Business geworden – und Business wird im Gegenzug zur Religion. »Think different« oder »Just do it« sind nicht Angebot eines elektronischen Produkts oder eines Schuhs, sondern einer Lebensphilosophie. Facebook monetisiert die Gemeinschaft mit Gleichdenkenden. Google ersetzt die allwissenden Pfarrer und Mönche des Mittelalters. Politik möchte mitspielen in diesem Wettbewerb der Verführungen, und wo ihr die geistigen Kapazitäten fehlen, setzt sie steuerfinanzierte Brachial-PR ein.

Der kleine Mensch, Sie, ich, er sieht sich nun hin- und hergerissen zwischen all diesen Angeboten, die uns vereinnahmen möchten.

Irgendwem müssen wir ja dienen, es ist uns angeboren. Kein Mensch ist eine Insel und selbst die Insel spielt an ihren Küsten und Stränden mit den Wellen des Meeres.

Kleine Buchstaben lesen

Ich stehe mit meinem Sohn am Rande des Vulkans, und ich schaue hinab ins Tal, über die Lavafelder, zum Meer und dann zum Horizont. Mein Bart ist schon halb grau und ich muss die Brille ausziehen, wenn ich kleine Buchstaben lesen will.

»Irgendwem wirst du dienen müssen«, sage ich zum Sohn. Ich bin ergriffen von der Erhabenheit der sich immer ändernden, an keinen zwei Tagen gleichen Natur. »Du schaust nie zweimal in dasselbe Tal«, soll José Saramago gesagt haben, erzählte mir einer, der ihn kannte. Ich habe einmal in Saramagos Küche einen Kaffee getrunken, das ist doch auch etwas. Auch Saramago schaute vom Vulkan aus ins Tal. Diese buchstäblich unendliche Weite, diese nackte Kraft. Ich fühle mich überwältigt, aber nicht klein.

Weiße Wolken eilen durch den warmblauen Himmel, und ihr schwarzer Schatten rast von den Bergen her über die Felder.

»Irgendwem wirst du dienen müssen, Leo«, sage ich, seine kleine Hand haltend, »und du musst entscheiden, wer und was es ist, dem du dienen wirst.«

»Okay«, sagt Leo, »und wenn wir gleich runtergehen, bekomme ich dann ein Eis?«

Weiterschreiben, Wegner!

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