Dushan-Wegner

04.05.2020

Wer die Mathematik nicht beherrscht, dem wirken alle Gleichungen richtig

von Dushan Wegner, Lesezeit 10 Minuten, Foto von Steven Su
Frau Merkel verrechnet sich mal eben bei den Infizierten. Ich bin dafür die Mathematik anzupassen, denn alles andere wäre Blasphemie. – Im Ernst aber: Wo wird Deutschland, nach Ihren Berechnungen, in 10, 20, 50 Jahren stehen?
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Das Leben teilt sich in zwei Teile: Zuerst in Kindheit und Jugend, und danach den viele Jahrzehnte langen Versuch, Kindheit und Jugend zu verarbeiten.

Ich will nicht von der »Schuld« der Eltern sprechen, und auch nicht von »Schuld« der Gesellschaft, doch ich lehne diese Schulddebatten nicht deshalb ab, weil Eltern und Gesellschaft nicht ursächlich an unseren Traumata wären (sie sind es, teilweise), und auch nicht (nur) deshalb, weil »Schuld« in solchen Debatten ein sehr religionsartiger Begriff ist, der mehr eine selbstgegebene Vorlage zur Ent-schuldigung und Schuld-verschiebung ist, als dass er wirklich Schmerz lindern oder auch nur das Problem präzise benennen könnte – was leistet denn die Schuldsuche bezüglich der Ereignisse unserer Kindheit, was ein Horoskop in der Modegazette oder die alten Tarotkarten nicht leisten könnten?

Die Schuldsuche in unseren Kindheiten, die bringt für sich nicht viel, doch wenn man die Trivialitäten abgehakt hat, eröffnet sich die Möglichkeit, nach Zusammenhängen zu suchen und Wirkungen zu vergleichen – sprich: zu verstehen. Wie habe ich mich entwickelt, im Vergleich zu meinen Mitschülern? Bin ich heimlich stolz? Bin ich unheimlich unzufrieden? Man muss (und sollte vielleicht) es nicht öffentlich tun. Man kann ja ein »inneres Klassentreffen« abhalten (solange es nur kein »innerer Reichsparteitag« wird, das darf man nicht mal sagen, denn das ist ein böser Nazi-Ausdruck, so wie »Autobahn« und »Haltung«).

Wer je in einer Schule war (angeblich besuchten ja alle Bürger irgendwann die Schule, aber haben Sie die Grünen reden gehört?), wer je in einer Schule war, der kann sich gewiss gut an die »Coolen« erinnern. (Oder er/sie war selbst einer von den »Coolen«, aber würde er/sie dann Texte länger als eine Kurznachricht lesen, ganz ohne Smileys?)

Es gab, und gibt, die »Coolen«, die für sich nicht die üblichen Regeln akzeptieren. Die »Coolen«, die schon früh mit Zigaretten und anderem Teufelszeug experimentieren, und die sich auch sonst durch die Übertretung von Grenzen und das Brechen von Regeln identifizieren.

Wie stehen diese Leute eigentlich heute, Jahre und Jahrzehnte später, im Leben da? Sind sie immer noch »cool«, und wenn ja, will man mit ihnen tauschen? Wie angenehm ist ein Leben wirklich, das sich aus Regelüberschreitungen herleitet, von denen eben nicht alle reversibel sind, und das stets darauf vertraut, dass andere die Fehler wieder wettmachen, auffangen, ungeschehen machen – bis sie es eben nicht mehr tun?

Videos und Rechenfehler

Wir lesen heute, dass Frau Merkel und Herr Spahn wohl falsche Corona-Zahlen von ihren Mitarbeitern durchgereicht bekamen. Man hatte von 40.000 akut Infizierten gesprochen, es waren aber wohl eher 29.000 (siehe welt.de, 3.5.2020).

Die, die glauben, die-da-oben würden die Situation viel schlimmer zeichnen als sie ist, weil die-da-oben mit Bill Gates unter derselben golddurchwirkten Bettdecke stecken, die sehen sich durch so einen Fehler natürlich bestätigt. – Man sollte so oder so anmerken, wie der Fehler wahrscheinlich entstand: Man hatte, wenn ich es richtig verstehe, von der Zahl der jemals getesteten 157.000 Infizierten zwar die Zahl der offiziell ca. 120.000 Genesenen abgezogen, aber die Zahl der Verstorben abzuziehen vergessen. Nein, das ist kein Beweis für die ganz große Verschwörung.

Am letzten Wochenende fanden derweil in Deutschland diverse Demonstrationen gegen die Corona-Verordnungen statt. Im Internet kursiert das Video einer Demonstrantin, der von Polizisten verboten wird, das Grundgesetz hochzuhalten. Es kursieren Videos von deutschen Polizisten, die mit Gewaltanwendung einen Demonstranten festzunehmen scheinen. Nur selten machen diese Videos ihren Kontext deutlich. (Erste Frage: Was hat der Verhaftete zuvor getan?!) – Einige der Videoschnipsel tragen offen das Logo des russischen Staatsfunks. Ich traue dem deutschen Staatsfunk nicht ein Zehntel so weit wie ein China-Virus beim Husten fliegt, ich sehe zugleich aber wenig Veranlassung, dem russischen Staatsfunk mehr Vorschussglauben als dem deutschen zu schenken. Der deutsche Staatsfunk schwächt unser Land und die Idee der Demokratie auf Jahrzehnte, und das wahrscheinlich irreparabel, indem die öffentliche Debatte auf ein intellektuelles Niveau zwischen Sekten-Gruppenabend und Grünen-Parteitag gesenkt wird – der russische Staatsfunk wirft provokante Videoschnipsel in die Debatte – ich bin nicht sicher, was schlimmer ist, doch ich wende mein »Prüfe alles…«-Motto auf beide Anstalten extra nachdrücklich an.

Frau Merkel wirft ja ohnehin gern mit dem Geld der Deutschen um sich, auf Kredit (den die Kinder der Deutschen dereinst abbezahlen sollen – spannend). Noch immer Legendär: Das Geld an die Griechen, als Quasi-Belohnung dafür, dass sie die Euro-Welt ob ihrer Zahlen belogen (siehe Interview in bild.de, 2.5.2010). Auch dem feinen Demokraten Erdoğan gibt Frau Merkel gern unser Geld (zdf.de, 17.3.2020: »Erdoğan bekommt mehr Geld«). Und jetzt wird man demnächst das Geld für die Rettung von Industrien ausgegeben, die man eben noch durch Umwelt-Sektiererei er- und abwürgen wollte (zum Beispiel mit Hilfe des aktuell diskutierten Direkteinstiegs bei der Lufthansa, siehe welt.de, 1.5.2020). (Zahlt Deutschland eigentlich noch immer Entwicklungshilfe an China? Nun, die Trump-Regierung deutet an, Reparationen von China für die Folgen des China-Virus zu verlangen – man rechnet ja schon halb damit, dass Merkel einen Weg suchen und finden wird, auch das irgendwie Deutschland aufzubürden.)

Aus Tiefen und Tieren

Deutschlands Kraft ist eine alte Kraft, Deutschlands Schwäche ist eine neue Schwäche. Deutschland zehrt von alter Tradition, doch es schreibt keine neue, zumindest keine kluge. Einst galten Fleiß, Vernunft und Sorgfalt als deutsche Tugenden – was wird man dereinst als »typisch deutsche Tugenden« bezeichnen? Hysterisches Umherspringen von einer Gefühlsregung zur nächsten? Das Erbe der Alten zu verjubeln, die Jungen verhöhnend?

Das Verhalten Chinas in der China-Krise mochte unserer Goldfischmoral fragwürdig erscheinen (und womöglich nicht nur der, siehe etwa bild.de, 4.5.2020: »Peking verhängte Reiseverbote für sein eigenes Volk, sagte aber anderen Nationen, dass solche Einschränkungen nicht notwendig seien.«, »Schutzmasken sind in Corona-Zeiten ein überlebenswichtiges Gut. China soll die Welt belogen haben, um sich einen Startvorteil zu verschaffen«), doch das Land lässt keinen Zweifel daran, dass 1. seine relevanten Strukturen geordnet sind (中國第一, China first!), und 2. es aus Fehlern dazulernt.

Ob sich die Pandemie bald zerläuft, ob eine zweite Welle über die Länder rollt, oder ob ganz neue Viren aus den Tiefen und Tieren hervorkriechen: China ist ein lernendes System, China hat hieraus gelernt – Deutschland lernt nicht dazu. Der Staatsfunk und viele Zeitungen, teils mit »interessanten« Eigentümerverhältnissen und Partnerschaften, verdrängen und verhindern Debatte durch dauernde Hyper-Emotionalisierung, propagandatypisches Freund-Feind-Denken und die Einforderung des Bekenntnisses zu den Wahrheiten des Tages (denken wir nur an die Chemnitz-Lüge zurück). In China verschwinden kritische Wissenschaftler für Wochen – in Deutschland wäre das gar nicht notwendig, denn sie würden von den braven Journalisten sowieso ignoriert werden. (Selbst wenn sie kurz zuvor noch von ebendiesen Medien hofiert wurden. Die Acht-Milliarden-Fahne und die »privaten« Hilfsfähnlein könnten über Nacht im Wind drehen – auffallend unisono.)

Altes Vermögen und neuer Kredit

Es stimmt, dass die längst ergrauten 1968-er gewisse Veränderung in die deutsche Republik brachten, vor allem in die Debatte und öffentliche Denkweise, eine Veränderung zum Emotionalen wohlgemerkt, und aus dieser resultiert gerade in einer Demokratie eben auch die Politik. Deutschland will »cool« sein (oder »moralisch«, »politisch korrekt« und »ökologisch«, wie man das heute nennt), doch wie geht es den »Coolen« von damals heute? Eben. Das einzige Gut, dass der Coole zu verkaufen hat, ist die Coolness selbst, und ich habe erhebliche Zweifel daran, dass sich die deutsche Moral so gut verkaufen lässt wie das Lebensgefühl, das Hollywood uns seit hundert Jahren als Inbegriff amerikanischer Coolness verkauft.

Trumps Motto ist bekanntlich »America first« (er meint die United States of America, nicht unbedingt die beiden Kontinente), Deutschlands Motto ist eher – »Gefühle zuerst, Fakten später«. Wer die Mathematik nicht beherrscht, dem sind alle Gleichungen richtig (glaubt er). In der Logik nennt man das Prinzip übrigens »ex falso quodlibet«, siehe etwa meinen Essay vom 24.5.2016.

Wenn das Leben eines Menschen in Kaffeelöffeln zu messen ist (siehe »Murmeltiertag, deutsche Fassung 2019«), dann wäre das Leben eines Landes in Suppenkellen zu messen. Die 1968-er mögen ergraut sein, die »Jugendlichkeit«, die sie dem Land brachten, erblüht erst heute so richtig – und es sind merkwürdige Blüten, die sie treibt. Das Rebellentum mancher 1968-er bestand eigentlich zuerst darin, das Erbe der Väter zu verschleudern, während man es zu verachten vorgab.

Das Leben teilt sich in zwei Teile: Zuerst Kindheit und Jugend, und danach der viele Jahrzehnte lange Versuch, seine eigene Vergangenheit zu verarbeiten. Deutschland verarbeitet seine eigene Vergangenheit und die Entsagungen der Nachkriegszeit, indem es wie ein Pendel von einem Extrem ins andere schlägt (beim China-Virus von totaler Leugnung zum nachhaltigen Abwürgen der Wirtschaft), indem es sich in der Welt für viel Geld ein wenig Liebe zu kaufen erhofft, und ansonsten darauf vertraut, dass altes Vermögen und neuer Kredit für immer reichen werden.

Wer extra mutig ist

Die Frage mag uns einen Schrecken einjagen, weil die linksgrüne Gewohnheit des Ausblendens von Realitäten auf uns abgefärbt hat, und doch ist es eine so kühle wie entscheidende Frage (und die Antwort wird passieren, ob wir uns die Frage stellen oder nicht): Wie wird Deutschland realistisch in 10, in 20 oder in 50 Jahren dastehen?

Wie werden wir auf die nächste Virus-Krise reagieren? Welche Industrie wird Autos, Maschinenbau und Chemie abgelöst haben, wenn diese verboten wurden, um Chinas CO2-Produktion auszugleichen? Deutschland leistet sich heute über eine Billion Euro Sozialausgaben pro Jahr (handelsblatt.com, 8.8.2019) – die Gesamtsumme der Exporte (nicht der Gewinne daraus, wohlgemerkt) lag 2019 übrigens mit ca. 1,3 Billionen Euro (destatis.de) nicht allzu weit über den Sozialausgaben. Wie wird es in 10 Jahren aussehen, gegeben aktuelle politische Entwicklungen?

Das Leben des heutigen Deutschlands teilt sich in mehrere Abschnitte. Nach dem Krieg wurde aufgebaut. In den 1970er setzte der Macht- und Dummheitskult erfolgreich zum Marsch durch die Institutionen ein. In der Merkelära zehrt Deutschland noch immer von der Phase des Aufbaus, doch es verschleudert dieselben Früchte zugleich. (Gibt es eigentlich Statistiken dazu, wieviel CO2 unnötig produziert wird, indem PKWs im Stau stehen und LKWs lange Umwege fahren müssen, weil deutsche Brücken marode sind? (vergleiche welt.de, 29.11.2016 u.a.) – Na ja, Hauptsache die Deutschen geben Indien eine Milliarde Euro für »grüne Verkehrsmittel«; siehe br.de, 2.11.2019.)

Zu Beginn dieser Pandemie fragten sich einige von Ihnen, ob das alles nicht eine »Übung« sei (siehe etwa Essay vom 20.3.2020). Nein, eine »Übung« im dem Sinne, dass es jemand »geplant« hätte, dafür gibt es bislang keine mir bekannten Hinweise – doch dass es (offensichtlich!) nicht geplant war, hindert uns nicht, den wirtschaftlichen Lockdown als Übung zu betrachten.

Ja, die Sorgen um Wirtschaft und Arbeitsplätze sind groß. Es heißt, dass das China-Virus besonders tödlich ist, wenn man Vorerkrankungen mitbringt, und insofern ist das Virus für Deutschland und seine Wirtschaft sehr gefährlich. Doch mich treibt heute eine weitere, gewissermaßen »philosophische« Sorge um, nämlich die, ob wir hieraus gelernt haben. China hat ohne Zweifel gelernt, mancher andere Staat auch, doch was ist mit Deutschland?

Wir können nur begrenzt viel dafür tun, dass das gesamte Land klüger wird – jedes Mal, wenn ein Robert Habeck den Staatsfunkern eine Audienz zur besten Sendezeit gestattet, jedes Mal, wenn ein Journalismuspreisträger am Abend die Wahrheit des Tages verkündet, jedes Mal wenn die gestrige Wahrheit ausradiert und neu geschrieben wird, jedes Mal sterben im modernen Palimpsest der Wahrheitssysteme die kollektiven Gedächtniszellen – und sie wachsen so verflucht langsam nach.

Es mag kein richtiges Leben im falschen geben, das ist wahr, doch es gibt kluges Leben denkbar auch in einem Land, das nichts aus der Krise lernt, das verschleudert, was es bewahren sollte. Nein, das Land wird nichts aus der Krise lernen, und man wird das Leid der Opfer leise halten, um das Wir-schaffen-das-Ethos nicht zu beschädigen. Die Frage ist, was wir selbst hieraus lernen.

Das Leben des Menschen mag sich aufteilen in die Zeit der Traumatisierung und die Zeit der Trauma-Aufarbeitung – doch es ist nicht verpflichtend, es so anzustellen.

Wir sind nur so-und-so-weit dafür verantwortlich, ob das Land insgesamt dazulernt, so schön und erstrebenswert es wäre. Wir sind aber ganz und auf Dauer dafür verantwortlich, was wir hieraus lernen.

Heute begrüßt man einander schon mal mit den Worten: Hast du es gut überstanden? – Wir sollten, gleich danach, eine Frage anschließen: Was hast du daraus gelernt?

Wer extra mutig ist (oder schnell laufen kann), der kann schließlich fragen: Wo meinst du, dass dieses Land in 10, 20 oder 50 Jahren stehen wird?

Weiterschreiben, Wegner!

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