Dushan-Wegner

09.08.2018

Das Feuer in der Faust

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von NASA
Der Raumfahrer, der ins Weltall fliegt und von dort oben auf uns hinabschaut, was denkt er über die Menschen? Ist er zufrieden oder ist er traurig? Ich frage mich, was er uns sagen würde!
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Der Faustkeil diente dem frühen Menschen als Werkzeug, um sich sein Fleisch zuzubereiten, im Boden zu graben oder auch um Pflanzen zu hacken. Bei der Jagd konnte der Mensch seinen Faustkeil nach dem Tier werfen, und später konnte er mit demselben Faustkeil das Tier als Mahlzeit für den Stamm zubereiten. Der Faustkeil war eine Technik, und diese Technik half dem Menschen, zu überleben und zugleich sein Überleben etwas angenehmer zu machen.

Der Mensch entdeckte das Feuer, also eine Technik, die ihm Licht und Wärme spendete. Erst zähmte der Mensch die wilden Feuer. Dann lernte er, selbst Feuer zu entfachen. Erst mit Fackeln, dann mit Kerzen und Öllampen erfand der Mensch sich Techniken, mit derer Hilfe er das Feuer umhertragen konnte, von einer Höhle zur anderen, von einem Zimmer zum anderen, von der Küche zum Esstisch, vom Esstisch zum Nachttisch; wenn aber das Feuer vom Docht der Kerze ausbrach, dann brannte es das Haus nieder oder die ganze Stadt.

Er fand den elektrischen Strom und er erfand das elektrische Licht; nun konnte der Mensch seinen Tag verlängern, ohne dafür ein Feuer entzünden zu müssen.

Der Mensch lernte das Sprechen. Er lernte, ganz von selbst, das Denken, und er lernte seine Gedanken in Sprache zu fassen. Man erfand Zeichen, um seine Gedanken und sein Wort in weiche Erde oder in den harten Stein zu kratzen. Man erfand Tinte, mit der man seine Gedanken auf die Haut eines Tieres schreiben konnte. Man erfand Papier und später erfand man den Buchdruck.

Einige Menschen dachten darüber nach, was und wie sie dachten, und sie erfanden Begriffe wie »Information«. Sie kamen auf die Idee, Information mit Hilfe von Elektrizität zu codieren und zu manipulieren. Sie erfanden den Computer.

Techniken, mit denen der Mensch täglichen Umgang pflegt, haben oft die Eigenschaft, sich so lange weiter zu entwickeln, bis sie zu einer Art Faustkeil werden.

Einst trugen die Menschen das Feuer auf Fackeln von einer Höhle zur anderen; heute haben sie ein Feuerzeug, eine Art Feuer-Faustkeil, das Feuer in der Faust.

Einst trugen Menschen Steintafeln und Schriftrollen umher, heute haben sie Taschenbücher und E-Reader, also eine Art Lese-Faustkeil.

Einst lasen Menschen die Zeit von Sonnenuhren und Kirchtürmen ab, heute haben sie Armbanduhren, eine Art Zeit-Faustkeil am Handgelenk, den aber immer mehr Leute wieder ablegen, denn eigentlich möchten sie einen Faustkeil, den sie wirklich in, nicht an der Hand halten können.

Apple-Mitgründer Steve Jobs hat 2007 die modernste Technik der Welt, den internetfähigen Computer, zum neuen Faustkeil komprimiert, dem Smartphone. Heute ist Apple das wertvollste Unternehmen der Welt.

Eine Technik muss nicht ein Gerät sein, wie wir an der Schrift erkennen. Das griechische Wort »τέχνη« bedeutet, unter anderem, Handwerk und Wissenschaft.

Beispiel: Die Mathematik ist eine Technik (und sie ist zugleich ihre eigene Wissenschaft, also eine Technologie). Mit Hilfe der (damals noch sehr einfachen) Mathematik zählten Menschen schon vor Tausenden von Jahren ihr Getreide. Sie lernten, den Verlauf der Gestirne zu berechnen.

Eine der ältesten und prägendsten Techniken des Menschen ist die Große Erzählung, die ihm sagt, woher er kommt und was sein Auftrag ist. Die eine Erzählung sagt dem Menschen, dass er die Wiedergeburt kaum zu zählender anderer Wesen ist, welche einst vor ihm lebten, und dass es sein Auftrag ist, dem Kreislauf der Wiedergeburten zu entkommen. Eine weitere Erzählung sagt dem Menschen, dass seine ersten Ahnen von einem höheren Wesen geschaffen wurden, und dass es sein Auftrag ist, gewissen Gesetzen zu gehorchen. Die Erzählung der Wissenschaft sagt, dass der Mensch sich die Vorfahren mit den heutigen Affen teilt – und sie gibt ihm keinen Auftrag. Kann der Mensch ohne Große Erzählung leben? Kann er glücklich werden?

Ordnung des Zusammenlebens

Man redet heute über Zukunftstechnologien wie Künstliche Intelligenz oder menschliche Organe aus dem 3D-Drucker. Es gibt sogar Leute, die träumen von der Rohstoffgewinnung auf Asteroiden, und wem das gelingt, der wird gewiss der reichste Mensch in der Geschichte werden – kein Wunder, dass auch der reichste heute lebende Mensch sich in privater Raumfahrt versucht, er will ja seinen Status nicht verlieren!

Der Raumfahrer, der ins Weltall fliegt und von dort oben auf uns herabschaut, was denkt er über uns, die Menschheit? Von dort oben sieht man zwar die Meere und Kontinente, doch man sieht keine Ländergrenzen, keine Religionen und keine Politik. Manchmal erkennt man die Folgen der Politik, der Religionen und des Krieges, wenn etwa Felder verbrannt und Städte zerstört sind. In der Nacht sieht man, wo elektrisches Licht brennt und wo es dunkel ist. Was denkt der Raumfahrer über unsere Probleme?

Es ist gut, dass Menschen nach Heilmitteln gegen Krebs suchen und nach anderen Arten, das Leben leichter zu machen, ja, es sogar zu verlängern. Es ist gut, dass Forscher nach schadstoffarmen Energiequellen suchen und nach Belegen für das Supersymmetrie-Prinzip. Doch, wäre es nicht genauso dringend und wichtig, nach Prinzipien zu suchen, nach denen Menschen in Frieden und zugleich in Freiheit zusammenleben können, über die Grenzen von Sprache, Geschichte und Religion hinweg?

Gedanken zum Dabeihaben

Technologien setzen sich leichter durch und verändern eine Kultur, wenn sie archaische Muster kopieren. Das TV setzte sich durch, auch weil es in mehreren Hinsichten das Zusammensitzen um das Lagerfeuer kopierte. Menschen sitzen an etwas Flackerndem (das in den ersten Jahrzehnten auch tatsächlich warm war), und es wurden Geschichten erzählt. Doch das TV kam zu seiner Vollendung nicht im TV, sondern als Filmchen im Smartphone, als es wie ein Faustkeil in die Hand genommen werden konnte. Wenn du als Produkt oder Dienst nicht selbst zum Faustkeil werden kannst, suche dir jemanden, der es kann, und bitte ihn, Teil seines Faustkeils werden zu dürfen.

Techniken sind kulturell dann besonders erfolgreich, wenn Menschen sie selbst benutzen wollen, so wie der Faustkeil erfolgreich ist, weil es den Menschen angeboren ist, ihn zur Hand zu nehmen. Schon das kleine Kind nimmt einen Bauklotz, und schlägt damit auf einen anderen Bauklotz ein – oder es nimmt gleich einen der digitalen Faustkeile und lässt sich vom Flackern hypnotisieren.

Techniken können nur schwer per Anordnung durchgesetzt werden. Eine auch kulturell erfolgreiche Technik muss immer von einer solchen Art sein, dass Menschen sie aus eigenem Antrieb besitzen und regelmäßig benutzen wollen.

Wenn wir eine Denk-Technik formulierten, die Menschen helfen soll, miteinander auszukommen, müsste sie einfach wie ein Faustkeil sein, doch in ihrer Einfachheit und Nützlichkeit ebenso attraktiv!

Gedanken müssen einfach formuliert sein, damit sie funktionieren. Wir brauchen einfache Wahrheiten, die dem Verstand wohltun und zugleich der Seele, die sich nach Frieden sehnt.

Der philosophische Faustkeil

Wissenschaftler entwickeln immer neue anfassbare Geräte, doch unsere Gedanken laufen noch immer mit Denk-Technik, die von Schafhirten in der Bronzezeit erfunden wurde. Wenn am Auto das Lenkrad lose ist und die Bremsen schwach, dann wird es das Problem bestimmt nicht lösen, wenn man einen stärkeren Motor einbaut. Statt dass die neuen Geräte unsere Probleme lösen, nutzen sie diese eiskalt aus und machen sie ärger. Das Gaspedal ersetzt nicht das Navi.

Wir brauchen einen neuen philosophischen Faustkeil – dringend. Informatiker suchen nach den Formeln der Intuition, Mediziner suchen nach den Formeln des ewigen (oder zumindest weniger kurzen) Lebens, Batteriehersteller suchen nach Formeln für Energiespeicher, die zehnmal so lange halten wie bisherige Batterien – und weniger oft in Flammen aufgehen. Das sind allesamt wichtige und lohnende Ziele. Ich selbst finde eine weitere Zukunftstechnik extra spannend: Wir brauchen eine Denk-Technik, die es einzelnen Menschen und ganzen Völkern erlaubt, in Frieden mit anderen Menschen und Völkern zu leben – und im Frieden mit sich selbst.

Kann es so eine Denk-Technik überhaupt geben? Kann sie von der Art sein, dass Menschen sie gern und freiwillig anwenden, und sie doch funktioniert? Ich weiß es nicht, ich wünsche es mir sehr. Sollen wir versuchen, den philosophischen Faustkeil zu finden?

Weiterschreiben, Wegner!

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