Dushan-Wegner

16.02.2019

Es ist 2019 und in Deutschland werden wieder Menschen mit Ratten verglichen

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Kelly Sikkema
Es wird unter Gutmenschen schick, politische Gegner in die Nähe von Ratten zu rücken. Es ist so gruselig, dass einem die Spucke wegbleibt – wenn DAS die »Guten« sein sollen, will ich kein Guter sein!
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Es war einmal ein Mädchen, das schaute Musikvideos im Fernsehen statt ihr heiliges Buch zu studieren, wie ihr Glaube es vorschrieb – so erzählt es ein modernes digitales Märchen. Das Märchen erzählt weiter, dass jenes Mädchen sich mit ihrer Mutter zerstritt, und in der Aufregung des Streits griff das Mädchen das heilige Buch und trampelte, so die Erzählung, darauf herum – wie es in Geschichten so ist, wurde das Mädchen daraufhin zur Strafe in eine Ratte verwandelt.

Die Geschichte vom »Rattenmädchen« verbreitete sich 2005 besonders unter den Jugendlichen einer ganz bestimmten Religion, weltweit. Es war ausgedacht, doch es wurde wie ein Fakt behandelt. Die Botschaft war: Wer unserer Lehre widerspricht, der ist kein richtiger Mensch mehr, sondern eine Ratte.

Man zeigte einander die digitalen Fotos einer Kreatur, die tatsächlich eine Kreuzung aus Mensch und Ratte zu sein schien.

In einem Bericht von 2005 heißt es:

Auf dem Handydisplay erscheint eine bizarre Gestalt, nackt und gekrümmt auf dem Boden. Aus dem Rücken wächst ein fleischiger Schwanz, dunkle Borsten sprießen überall aus dem Körper, Hände und Füße sind zu Krallen verkümmert. Das Gesicht ziert eine Rattenschnauze. (spiegel.de, 21.12.2005)

Tatsächlich war das abgebildete Wesen eine Silikon-Plastik der australischen Künstlerin Patricia Piccinini aus ihrem Werk »Leather Landscape« von 2003 (siehe patriciapiccini.net).

Die Künstlerin war nicht glücklich über den Missbrauch ihres Kunstwerks zur religiösen Angstpädagogik, denn eigentlich sollte es ein Protest gegen Genmanipulation sein –also gewissermaßen politisch korrekte Angstpädagogik.

Erschreckenderweise falsch

In fast allen Zeiten und Kulturen fürchteten und ekelten sich Menschen vor Ratten. Im Judentum wie im Islam gelten Ratten als unreine Tiere, und auch Christen würden sie nicht einfach so essen wollen.

Ratten gelten als Nahrungsmittelschädlinge und als Überträger von Krankheiten. Ratten übertragen Dutzende von Krankheiten, darunter Salmonellen, Hantaviren und indirekt auch die Pest. Kein Tier hat ein übleres Image. Die Ratte mag ein Säugetier sein, wie Menschen auch lebendgebärend, ein Allesfresser mit Lunge, Haaren und vier Extremitäten, wie wir, doch kaum ein anderes Tier ist uns fremder, kaum ein anderes Tier wird mit solcher Selbstverständlichkeit getötet und auszurotten versucht.

Zu den übelsten, vulgärsten und im Effekt gefährlichsten Beschimpfungen in der sprachlichen Auseinandersetzung gehört es, Menschen mit »Ratten« zu vergleichen. Wer einen Menschen in die Nähe von Ratten rückt, der nimmt ihn nicht mehr als Menschen wahr, der entmenschlicht ihn.

1940 kam der Film »Der ewige Jude« in die deutschen Kinos. Der Film sollte die Deutschen auf die sogenannte »Endlösung der Judenfrage« einstimmen, gemeint: Massenmord. Auch wer den widerlichen Film nicht gesehen hat, der hat doch vom Motiv des Films gehört, Ratten und Menschen zu vergleichen – Entmenschlichung und Verbrechen gingen einher.

Man sollte denken, dass Deutschland ein für allemal gelernt hätte, nie wieder Menschen mit Ratten zu vergleichen. Man sollte es denken, ja, doch man läge erschreckenderweise falsch.

Wo sie herkommen

In den Kreisen jener Deutschen, die sich selbst für »gut« befinden und sich für als des Bösen metaphysisch unfähig ansehen, gilt es immer häufiger als schick, im Kampf gegen Opposition und Kritiker den Begriff Ratte einzubringen.

Ein häufiger Trick ist es etwa, die Geschichte vom »Rattenfänger« von Hameln zu verwenden. Man bezeichnet den widersprechenden Gegner als »Rattenfänger«, hat ihn also in Nähe der ungeliebten Tiere gebracht, kann sich aber darauf herausreden, dass der Rattenfänger von Hameln eigentlich Kinder »gefangen« hatte, insofern habe man angeblich ja niemanden mit Ratten verglichen.

Martin Schulz nennt etwa seine Gegner »Rattenfänger« (welt.de, 29.1.2017), Annegret Kramp-Karrenbauer tut es (welt.de, 27.5.2018) und der selbsterklärte »Gutmensch« Woelki (kinderlos, aber 5-Zimmer-Wohnung und dienstlicher 5-er BMW, zumindest laut n-tv.de, 17.10.2013) tut es ebenso (deutschlandfunk.de, 23.12.2018).

Der Schritt weiter

Nicht jeder belässt es beim trickreichen Begriff »Rattenfänger«. Raed Saleh, bekennender Muslim mit palästinensischen Wurzeln (deutschlandfunk.de, 4.9.2014) und Berliner SPD-Fraktionschef mit spannendem Verhältnis zum Antisemitismus (siehe tichyseinblick.de, 2.5.2018), ist den entscheidenden Schritt weitergegangen.

Saleh wird zitiert, die AfD gehöre »dahin, wo sie herkommt: in ihre Rattenlöcher!« (bz-berlin.de, 19.1.2019)

Aus welcher Bildwelt heraus hat er gesprochen? Aus der deutschen Bildwelt, insbesondere der deutschen Geschichte? Aus der spezifisch muslimischen Denkwelt? Es gibt keine relevante Bildwelt, aus der heraus es nicht mindestens zutiefst unanständig wäre, Menschen in die Nähe von Ratten zu rücken.

Sein Gegenpart bei der AfD, Georg Pazderski, hat Saleh nach dieser Äußerung angezeigt.

Laut Medienberichten hat die Staatsanwaltschaft nun das Verfahren eingestellt. Es gäbe keine »zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte« für den Vorwurf der Volksverhetzung (siehe tagesspiegel.de, 15.2.2019 – interessant auch die plumpe Manipulation bei den Fotos zum Beitrag: der AfD-Politiker mit erhobener rechter Hand, der SPD-Politiker lachend).

In seiner Strafanzeige wies der AfD-Politiker auf die Parallelen zur Propaganda des Dritten Reiches hin – die Staatsanwaltschaft folgte dem nicht.

Für einen Augenblick

In den sozialen Medien wird die Entscheidung von den »Guten« gebührend gefeiert. »Darf man jetzt also #Ratten zu denen sagen? #AfDratten #fckafd #afdverbot Schön! Es ist was es ist! Ratten!«, sagt einer, man will neu gegen die »Ratten in Deutschland« kämpfen, »Ratten sind in der AfD der Normalzustand« heißt es und »Braune widerliche Ratten!«, und so fort, stets mit bestechender Logik: »Wenn Politiker der #AfD sich von Begriffen wie Ratten getroffen fühlen, dann scheint da wohl etwas dran zu sein.« (ich spare mir die Verlinkungen, versichere Ihnen aber, es korrekt übernommen zu haben, und dass es viele weitere davon gab). – Die Saat, die Raed Saleh säte, ging wohl auf, und sie wird weitersprießen.

Nun tritt Pazderski selbst nicht allzu sanftmütig auf, doch das ist nicht der Punkt. Die Frage ist, ob Deutschland aus Weimar und dem Dritten Reich gelernt hat, Menschen nie wieder zu entmenschlichen, egal was man von diesen Menschen hält.

Ist es dann keine Volksverhetzung, wenn der betroffene Teil des Volkes gerade politisch ungeliebt ist? Gilt die Menschenwürde nach Artikel 1 Grundgesetz nur, solange man nicht die »falsche« politische Meinung vertritt? Muss das Grundgesetz umgeschrieben werden, und muss Menschsein beschränkt werden, so dass Bürger mit der »falschen« politischen Meinung von Menschsein und Würde ausgeschlossen sind?

Mindestkonsens

Es spielt keine Rolle, welchen kulturellen Kontext man heranzieht, Menschen mit Ratten zu vergleichen ist niedrigste Umgangsform. Wie will man sich noch steigern? Werden demnächst Bilder von Oppositionsabgeordneten herumgezeigt, die angeblich zu Ratten mutiert sind, weil sie Rechtsstaat statt Gesinnungsethik fordern, oder sogar gesicherte Grenzen?

Im Kampf gegen die Opposition ist schon manche Hemmung gefallen. Man ändert die Regeln, man flirtet mit der »roten SA« – sprich: Antifa, man diffamiert Millionen von Bürgern als »Dunkeldeutschland«. Und jetzt wird es hoffähig, Andersdenkende und Ratten zusammenzubringen. Was soll denn die Botschaft sein? Dass wer der linken Lehre zu widersprechen wagt, kein Mensch mehr sei, sondern eine Ratte?!

Es hat gewisse Ironie, wenn die Parteien und Prominenten, welche der AfD vorwerfen, allzu weit rechts zu sein, sich selbst und viel mehr der Sprache und Sprachbilder der NSDAP bedienen. Wenn wie ein Nazi zu klingen dich zum modernen Nazi machte, wäre mancher Politiker der Groko-Parteien nicht »viel mehr Nazi«? Es wird absurd, wenn man etwa einem Höcke allzu rechten Sound vorwirft, aber selbst die Sprachbilder eines Goebbels übernimmt – es wäre ja nicht das erste Mal aus dem Lager der »Guten«.

Ich würde mir wünschen, dass die Parteien, gleich welchen Grades an Realitätsnähe, sich in Deutschland auf einen ethischen Mindestkonsens einigen würden, eine sprachliche Grenze, die nicht überschritten werden darf – doch die »Guten« sind ja gegen Grenzen, wohl auch gegen die Grenzen politischen Anstands. Wie argumentiert man mit einem, der meint, für ihn gälten keine Regeln, weil er metaphysisch gut sei, egal wie unanständig er sich benimmt. – Ich weiß es nicht.

Was ich aber sicher weiß: Wenn das die Guten sein sollen, die andersdenkende Bürger mit Ungeziefer vergleichen, dann will ich definitiv kein Guter sein!

Weiterschreiben, Wegner!

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