Dushan-Wegner

15.02.2019

Kleine Teile der sich wiederholenden Geschichte

von Dushan Wegner, Lesezeit 10 Minuten, Bild von Dario-Veronesi
Einst zog der Kinderkreuzzug zum Meer, begeistert von der Ideologie des Tages, heute schwänzen Kinder die Schule und demonstrieren, wieder für die Ideologie des Tages. Sind wir alle nur kleine Teile der sich wiederholenden Geschichte?
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Verehrte Leser, dieser Text sollte einen Soundtrack haben, eine Musik, ein zugeordnetes Lied, und damit Sie das Lied hören können, benötige ich Ihre Mitarbeit: Bitte spielen Sie das Lied »History Repeating« ab! – Sie können auf YouTube das starke Cover von Caro Emerald aufrufen oder bei Amazon das Original von Propellerheads und Shirley Bassey kaufen. Sie können die Lautsprecher am Bürocomputer lautdrehen, bis der Chef auf dem Tisch tanzt. Sie können Ihre Kopfhörer ans Limit schieben, bis der Ohrenarzt mit Ihnen schimpft, aber das wird Ihnen egal sein, denn auch den hören Sie dann nicht mehr. Hauptsache ist, dass als Tonspur das perfekte Lied History Repeating läuft!

Etwas entsteht da

Die erste Strophe des Liedes, in meiner freien Übertragung aus dem englischen Original (siehe genius.com):

Es spricht sich herum, etwas entsteht da,
Was auch immer passieren wird, die Welt dreht sich weiter,
Sie sagen, dass das nächste große Ding hier ist,
Dass die Revolution nahe ist,
Mir scheint es recht klar,
Dass es alles nur ein kleiner Teil der sich wiederholenden Geschichte ist

(Anmerkung zur Übertragung: Man könnte diskutieren ob sich in der poetischen (!) Formulierung »little bit of history repeating« das »repeating« auf »bit« oder auf »history« bezieht. Ich habe nach einiger Abwägung beschlossen, es sich auf »history« beziehen zu lassen, doch die Gesamtaussage würde auch mit Bezug auf »bit« funktionieren – es ist schön, wenn künstlerische Sprache so schillert!)

Man schrieb 1212 – anno domini, selbstverständlich, und – so erzählt die Legende – aus Frankreich wie auch aus Deutschland brachen die Kinder zum Kinderkreuzzug auf. Das Ziel galt damals als ein edles: Es galt, die Muslime zum Christentum zu bekehren (im lobotomisierten Grün-Christentum von heute dagegen gälte Matthäus 29:19-20 wohl als Hate Speech). Es war – wenig überraschend – ein Kölner, der in Deutschland die »pueri« sammelte. Es soll ein Junge namens Nikolaus gewesen sein. Ein Engel war ihm erschienen, so hieß es, und der Engel habe ihn aufgefordert, das heilige Grab von den Sarazenen zu befreien. Es ist nicht bekannt, ob Nikolaus an Asperger litt, aber es ist in etwa so solide belegt wie der Rest der Erzählungen vom Kinderkreuzzug, dass Nikolaus im Sommer 1212 bei den Talkshows des Heiligen Römischen Rundfunks auftrat, bei der Heiligen Sankt Maischberger, beim Bischof Lanz auch, und bei der Gräfin von und zu Illner sowieso.

Der von Köln ausgehende deutsche Teil des Kinderkreuzzugs teilte sich in den Alpen auf. Zwei Drittel der Teilnehmer starben, und nur etwas mehr als Siebentausend trafen in Genua ein. Sie waren etwas enttäuscht, als wider alle Erwartung sich das Meer nicht vor ihnen teilte, so heißt es. Einige machten sich später auf den Heimweg, kein einziger erreichte das Heilige Land, so weit man weiß.

Der französische Teil des Kinderkreuzzugs soll zu Beginn immerhin dreißigtausend Kinder stark gewesen sein, und es gilt geschichtlich einiges daran als noch zu erforschen, so auch die Frage, ob sie alle gelbe Westen trugen. Die französischen Kinderkreuzzügler liefen nach Marseille. Auch dort teilte sich das Meer nicht.

Man erzählt, dass die Kinder von kaltherzigen Männern auf Schiffe verfrachtet und als Sklaven verkauft wurden, unter anderem nach Bagdad, wo sie selbst viele Jahre später als erwachsene Sklaven gelebt haben sollen.

Gutgläubige Kinder, die von skrupellosen Erwachsenen instrumentalisiert werden und dann tot oder in Sklaverei enden, Kinder, die sich in den Wahn steigern, höhere Mächte würden für sie die Gesetze der Physik aufheben, Kinder, die meinen, die Rettung der Welt läge in Kinderhand, die »Gott mit uns« oder »wir sind mehr« rufen – wie gut, dass es das heute nicht mehr gibt, sonst würde es wie kleine Teile der sich wiederholenden Geschichte wirken.

Ob er kommt oder geht

Die zweite Strophe:

Die Zeitungen brüllen – ein neuer Stil entsteht
Doch er weiß nicht, ob er kommt oder geht
Es gibt Mode – und es gibt Launen
Einiges ist gut – anderes ist schlecht
Und der Witz ist ziemlich traurig
Dass es alles nur ein kleiner Teil der sich wiederholenden Geschichte ist

Wer war die mächtigste Person in den Schulen des tschechischen Kommunismus? Wer war es, den alle anderen Teilnehmer am Schulapparat fürchteten? Man würde (und sollte wohl) auf den Direktor tippen, doch man läge nicht ganz richtig. – Es waren die jungen Aktivisten.

Einige der Kinder an den Schulen des tschechischen Kommunismus begriffen früh, was einen innerhalb des Systems weiterbringt. Sie organisierten Demonstrationen, bei denen Stalin, die Sowjetunion und der Sozialismus insgesamt gepriesen wurden, und sie »schlugen es vor«, dass ihre Mitschüler mitdemonstrierten statt zur Schule zu gehen, und hätte der Direktor sich dem verwehrt – nun, es gab auch andere Anwärter (siehe auch: Meinung, Freiheit und »Konsequenzen«).

Mein Vater berichtet:

Diese Aktivisten, Schüler wie wir, waren in diesen Sachen mächtiger als der Direktor der Schule. Am Tag der Demonstration mussten wir in der Uniform der Pioniere (dunkle Hose oder Rock, weißes Hemd oder Bluse, rotes Halstuch, schwarze Schuhe) in die Schule kommen. Es wurden unter uns kleine Flaggen verteilt (tschechoslowakische und sowjetische, 50 : 50). Sehr beliebt waren auch die »mávátka« (»Winker«, ein Stock wie bei heutigen Silvester-Raketen, mit einem Büschel von bunten Papierstreifen am Ende), dazu große Portraits der kommunistischen Bonzen. Man trug ein Transparent mit einem Slogan wie: »Proletáři všech zemí, spojte se.« – (Proletarier alle Länder, vereinigt euch!) – Und wir gingen, und wir waren begeistert, bei jedem Wetter, egal, wie stark der Regen war, oder ob Schnee oder Hagel fiel.

Anders als bei den Kinderkreuzzügen gibt es Filmaufnahmen der kommunistischen Pflichtbegeisterung, etwa vom 1. Mai 1978, auf YouTube.

Jugendliche »Aktivisten«, die früh begreifen, wie man politische Karriere macht, und ganze Schulen via moralisch-politischem Druck motivieren, für die Ideologie des Tages zu demonstrieren, wie gut, dass es das nur in sozialistischen Diktaturen gab und nicht etwa heute, denn sonst könnte man fast meinen, das alles seien nur kleine Teile der sich wiederholenden Geschichte.

Ich werde es wieder sehen

Der Refrain:

Und ich habe es früher gesehen
Und ich werde es wieder sehen
Ja, ich habe es schon früher gesehen
Nur die kleinen Teile der sich wiederholenden Geschichte

Wer in den ersten Monaten des Jahres 2019 an einem Freitag das Radio des deutschen Staatsfunks anschaltete, der kam kaum umhin, schwärmerische Berichte von den »Fridays for Future« zu hören.

Im Deutschlandfunk heißt es etwa:

»Auf die Barrikaden! Auf die Barrikaden!«

Es klingt wie eine ganz gewöhnliche Demonstration. Aber einiges ist anders. (…) Es sind Kinder und Jugendliche. Sie nennen sich »Dumbledore’s Army«. Aber sie kämpfen nicht gegen Lord Voldemort, sondern gegen den Klimawandel. Und dafür schwänzen sie auch die Schule …
(deutschlandfunk.de, 15.2.2019)

Genehmigtes Schulschwänzen, teils organisiert von PR-Profis, wird als »kämpfen« gedeutet – das kann man so deuten, man kann es aber auch anders deuten.

Einige Lehrer lassen fünfe gerade sein (hier metaphorisch gemeint, es geht nicht um Bildungskrise):

»Ich, als Fachlehrerin in der Sekundarstufe zwei, hab die inoffizielle Aussage gegeben, dass wenn sie vorher an mich herantreten, dass ich ihnen diese Stunde entschuldigen werde, auch wenn sie halt mir vorher sagen, ich geh zu der Demo.«

Diese Erlaubnis knüpft die Lehrerin jedoch an feste Bedingungen. Die Schülerinnen und Schüler müssen wirklich an der Demo teilnehmen und sie müssen den Schulstoff selbstständig nachholen. Dann drohen ihnen keine weiteren Sanktionen.

(deutschlandfunk.de, 15.2.2019)

Recht und Schulpflicht sind »inoffiziell« aufgehoben, wenn man für die richtige Ideologie demonstriert, aber eben nur so lange. – Der Staatsfunk endet seinen Bericht gänzlich neutral und überhaupt nicht auf moralische Tränendrüslein drückend:

Solange singen sie Lieder, die so alt sind wie sie und trotzdem aktuell geblieben sind.

Am Ende hört man, wie Jana »Deine Schuld« von den Ärzten singt: »Es ist nicht deine Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist. Es wär nur deine Schuld, wenn sie so bleibt.«

(deutschlandfunk.de, 15.2.2019)

Kinder, die Parolen nachplappern. Kinder, die für Ideologien demonstrieren. Kinder, die Schulfrei bekommen, aber nur, wenn sie für das Richtige protestieren. Letztens skandierten sie noch »Wir sind mehr!«, und demonstrierten vor Wahlen zur Unterstützung der Regierung und gegen die Opposition (siehe auch »Wie nennt man es, wenn sie alle gleich schalten?«). Heute skandieren sie irgendwas mit Umwelt, um die Landschaft mit Vogelhäckslern vollzustellen und Deutschland abhängig von ausländischer Kern- und Kohlekraft zu machen. – Ich weiß nicht, wofür die Kinder morgen instrumentalisiert werden (ich tippe auf Pro-GEZ-Demonstrationen), doch ich bin sicher, dass die Propaganda es als hochmoralisch verkaufen wird.

Fühle den Schmerz

Die dritte Strophe in History Repeating:

Manche Menschen wollen nicht tanzen, wenn sie nicht wissen, wer da singt,
Warum deinen Kopf fragen? Es sind deine Hüften, die schwingen,
Das Leben ist für uns da – um sich daran zu freuen,
Frau, Mann – Mädchen und Junge,
Fühle den Schmerz – fühle die Freude,
Und weiche den kleinen Teilen der sich wiederholenden Geschichte aus;

Nur kleine Teile der sich wiederholenden Geschichte

In Köln startete nicht nur der deutsche Kinderkreuzzug, in Köln finden auch Jahr für Jahr die schönsten, berühmtesten und überhaupt allertollsten Karnevalsumzüge statt. Man könnte vor lauter Ernsthaftigkeit des jecken Treibens fast vergessen, dass die knallbunte Militär-Symbolik des Kölner Karnevals einst eine Parodie auf Besatzungstruppen war (siehe etwa sueddeutsche.de, 16.2.2015).

Ich weiß nicht, wie oft ich beim Kölner Karnevalslied »Denn wenn et Trömmelche jeht« mitgesungen habe – es ist ein großartiges Stimmungslied, doch wenn man den Anfang des Refrains vom Kölschen ins Deutsche übersetzt, und wenn man sich den parodistischen Aspekt des Karnevals wegdenkt, dann klingt das Lied ganz und gar nicht mehr lustig; der Refrain beginnt etwa so: »Denn wenn die Trommel erklingt, dann stehen wir alle parat, und wir ziehen durch die Stadt, und jeder sagt – «; an dieser  Stelle folgt ein »Kölle Alaaf«, in der Geschichte haben die Leute aber mal dies und mal jenes gerufen, wenn sie der Trommel hinterherliefen.

Wenn die Trommel schlägt, dann zuckt es manchen, zu marschieren, und wenn es den Erwachsenen zu peinlich oder zu lästig ist, für etwas zu marschieren, das sie selbst nicht glauben, aber das zu glauben politisch nützlich ist, dann schicken sie schon mal die Kinder vor. – Das Kölner Karnevalslied könnte man heute umschreiben: Denn wenn die Trommel geht, dann stehen die Kinder parat, und sie ziehen durch die Stadt, und jeder sagt, was man halt so sagt, wenn man vom Geist der Zeit nicht abzuweichen wagt.

Diesen Missstand zu beheben

Nochmal der Refrain von History Repeating.

Und ich habe es früher gesehen
Und ich werde es wieder sehen
Ja, ich habe es schon früher gesehen
Nur die kleinen Teile der sich wiederholenden Geschichte

Alle Fehler, die logisch möglich sind, wurden bereits gemacht, aber leider noch nicht von jedem, und die Geschichte ist der kollektive Versuch, diesen Missstand zu beheben.

Wenn Sie mich fragten, in welcher Demokratie jemals solcher politische Komformitätsdruck wie im heutigen Deutschland ausgeübt wurde, ich könnte es Ihnen nicht sagen. Selbst kleinste Abweichung wird hart bestraft, Künstler nennen sich »Kulturschaffende« und preisen die Ideologie des Tages (siehe »Kulturschaffende 1934, 1976, 2018«), Kinder werden schon in der Schule auf Linie gebracht, der Staatsfunk preist ideologiegetränkte Großdemonstrationen (siehe »5 Mark und Bratwurst – wenn das System zur Demonstration ruft«), und ich misstraue allen diesen Großdemos (hier ist der Grund).

Selbstverständlich braucht der Mensch einen Rhythmus und eine Richtung, in die sein Leben verlaufen sollte. Selbstverständlich braucht der Mensch ethische Werte, an denen er sich ausrichtet, aber: er sollte sie selbst frei wählen, und er sollte sie verstehen.

Ich liebe die Redensart »march to the beat of your own drum«: marschiere zum Rhythmus der eigenen Trommel! – Ich habe mein Leben der Aufgabe gewidmet, mit meinen Lesern gemeinsam darüber nachzudenken, wie unsere ethischen Meinungen entstehen, denn wie soll man glücklich sein, wie soll man sein Leben gut nennen können, wenn man sich nicht sicher ist, was man mit gut meint?! (Das Einstiegs-Buch, in dem ich diese Frage erörtere, ist natürlich Relevante Strukturen.)

Ja, es ist wichtig, dem Leben eine Aufgabe und eine Richtung zu geben.  Gerade deshalb ist es so traurig und erbärmlich, wenn Menschen sich einreihen,  sobald die Ideologen ihre Trommel schlagen. Jenseits alles Diskutablen verläuft es aber, wenn Erwachsene sich erdreisten, Kinder für ihre Ideologie einzuspannen.

Es scheint manchem klar, dass es nur die kleinen Teile der Geschichte sind, die sich da wiederholen. Es liegt an uns selbst, ob wir mehr sind als nur kleine Teilchen der sich wiederholenden Geschichte, ob wir zu unserer eigenen Trommel marschieren.

»Der Witz ist ziemlich traurig«, singt jenes Lied, »dass es alles kleine Teile der sich wiederholenden Geschichte sind«, und das ist vollständig wahr, doch wer sich selbst von Zeit zu Zeit aus der Geschichte herausnimmt, wer sich weigert, parat zu stehen, wenn die große Trommel schlägt, wer zu seiner eigenen Trommel marschiert, der hat sich auch das Recht verdient, von Zeit zu Zeit über den großen, traurigen Witz zu lachen!

Weiterschreiben, Wegner!

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