Dushan-Wegner

25.12.2018

Die Kunst des Widerspruchs

von Dushan Wegner, Lesezeit 8 Minuten, Bild von Soumalya Mandal
Steinmeier ruft zu offenem Dialog auf. SPD-Ministerin beklagt Verrohung der Sprache. – Spüren diese Politiker nicht, dass es widersprüchlich klingt, wenn gerade sie solche Aufrufe äußern? Es erinnert an jenes Gedicht: Dunkel war's, der Mond schien helle …
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Was wäre der Mensch ohne die Natur? Was wäre die Kunst ohne den Menschen? Diese Fragen sind präziser zu beantworten, wenn man das Wort »was« streicht, nämlich so: Wäre der Mensch ohne die Natur? Wäre die Kunst ohne den Menschen? – In beiden Fällen ist die Antwort: Nein.

Der Mensch ist eine von vielen Eigenschaften, gewissermaßen eine Ausstülpung, der Natur. Der Mensch ist ein lokaler Natureffekt, er ist die sich selbst an einer Stelle wahrnehmende Natur; die Stellen, an denen die Natur sich selbst wahrnimmt und »ich« nennt, nennen wir Bewusstsein, in verwandter Funktion auch Seele oder Individuum.

Die Natur wäre auch ohne den Menschen eben das, die Natur, so wie ein Baum derselbe Baum bleibt, wenn man ihm einen Ast abschlägt.

Die Kunst wiederum ist eine der vielen Eigenschaften der Menschheit. Mit Hilfe von Kunst versuchen Künstler auszusprechen, was mit Worten und mathematischen Formeln allein unzureichend beschrieben zu sein scheint. Künstler suchen nach Schrauben und Muttern für ein Werkstück, dessen schiere Möglichkeit so unwahrscheinlich wie die eines Perpetuum Mobile ist – und wehe sie liefern nicht, und zwar täglich!

Die Menschen entdeckten und entdecken die Sprache vor der Kunst, das gilt für die ganz große Geschichte wie für die Geschichte des einzelnen Menschen. Unsere Sprache wurde entwickelt, um den Stamm in der Halbwildnis zu koordinieren; über die simple Sprache hinaus entwickelte man das Fachvokabular der Wissenschaften, das doch noch immer dieselbe Grammatik und damit Denkmuster verwendet, und dazu die Sprache der Mathematik, samt ihrer Spielarten und Kreuzungen wie etwa der Sprache der Logik oder den Formeln der Linguisten.

Trotz all der verschiedenen Landessprachen, trotz all der wissenschaftlichen Fachsprachen, der Mathematik und der Logik, trotz all dieser Sprachen bleibt eine Lücke, bleiben wichtige Wahrheiten, die auszusprechen uns alle Worte und Zeichen fehlen, und diese Lücke zu beschreiben ist die Aufgabe der Kunst.

Beyond Wittgenstein

Malerei oder Poesie, Film oder Musik, auch die Kunst muss letztendlich eine greifbare Sprache verwenden, um das Ungreifbare zu vermitteln. Es gibt eine Lücke der unaussprechbaren Wahrheit (unaussprechbar dadurch, dass uns die Worte fehlen), und diese Lücke schmerzt besonders die Empfindsamen, also jene Personen unter uns, die für Kunstliebhaberei und andere Drogen anfällig sind.

(Der frühe) Wittgenstein sagte:

Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen. (Ludwig Wittgenstein, Schluss des Tractatus logicus-philosophicus)

Die Kunst widerspricht dem Ingenieur Wittgenstein, indem sie frecherweise eben doch einen logischen Weg aus dem Fliegenglas der Sprache findet: Die Kunst umreißt die Lücke des Unaussprechbaren. Interessante Kunst umreißt eine Lücke, die uns allen auf der Seele brennt. Erst-spät-entdeckte-Kunst umreißt Lücken, die erst späteren Generationen auf der Seele brennen wird. Kitsch umreißt Lücken, die schon andere umrissen haben, das aber zugleich sehr laut und sehr ungenau. Darf man Wittgenstein korrigieren? Man könnte es so wagen: Worüber man nicht sprechen kann, das bleibt der Kunst überlassen.

Stolpern oder Rutschen

Sie wissen es, ich stimme Ihnen zu und weiß es also auch: eigentlich sollte man heutzutage beim Übergang in ein neues Jahr mehr vom Stolpern als vom Rutschen reden, auch weil es heute längst nicht so verschneit ist wie damals, als wir jung und voller Hoffnung waren, und ich halte es sowieso für plausibel und doch auch wünschenswert, dass die Redensart »Guten Rutsch« vom einem jiddischen Wunsch »Gut Rosch« stammt, was schlicht »Guten Kopf« bedeutet hätte, abgeleitet von Rosch ha-Schana, dem Kopf des Jahres, und das Rutschen als Sprachbild hat sich eben etabliert, und wenn wir schon nicht korrekt heute »Gutes Stolpern« sagen, sondern weiterhin »Guten Rutsch«, dann bleibt es uns erstens überlassen, zu erkennen, das unters Rutschen auch ein Ausrutschen fällt, und zweitens, zu fragen: Unter welchen Bedingungen rutschen wir denn bald ins neue Jahr 2019?

Neue Demokraten

Der aktuelle deutsche Bundespräsident ist Herr Frank-Walter Steinmeier, im früheren politischen Leben bekannt unter anderem für die Murat-Kurnaz-Affäre (»Steinmeier weist Vorwürfe zurück«, deutschlandfunk.de, 23.1.2007) und diverse andere Missverständnisse, die zu listen hier ein wenig den Rahmen sprengen würde (siehe daher dazu Wikipedia zu Steinmeier, Abschnitt »Kontroversen«).

Frank-Walter Steinmeier hat Donald Trump einmal als »Hassprediger« verunglimpft (siehe z.B. cicero.de, 14.11.2016). Damals war Trump »nur« Kandidat und Steinmeier »nur« Außenminister. In normaleren Zeiten wäre solche Unbeherrschtheit womöglich genug Grund für Rücktritt und Karriereauszeiten – im linksgrünen Deutschland wurde er Bundespräsident.

Kaum ein Bundespräsident war in seiner Amtszeit so eindeutig parteiisch, zuverlässig auf Seiten der Regierung und im Attackenmodus gegen die Opposition. Steinmeier eint nicht, sucht nicht Versöhnung und Verständnis, sondern trennt und nimmt einseitig Partei, fokussiert auf die Fehler der Opposition, weitgehend blind für die Fehler der Regierungsparteien. (Aus der SPD erklang bereits vor seiner offiziellen Wahl unzweideutiger Jubel über den »sozialdemokratischen Schlossherrn«; welt.de, 11. 2.2017.)

Man fragt sich schon, wo die Zeiten hin sind, als Präsidenten gewisse Flügelspannbreite mitbrachten, und dann fällt einem ein, dass es Steinmeier war, der Sawsan »Rolex« Chebli zur stellvertretenden Sprecherin des Auswärtigen Amtes berief. Als Präsident giftet er immer wieder gegen »Populisten« (siehe z.B. zeit.de, 19.9.2017), im Wahlkampf ergreift er Partei gegen jene, die allzu lautstark gegen die Kanzlerin demonstrieren. Er macht Werbung für eine linksradikale und zeitweise vom Verfassungsschutz beobachtete Hassband (siehe welt.de, 3.9.2018) – wer sich mit Demokratie gleichsetzt und den Gegner mit Undemokraten, der kann offen parteiisch sein und behaupten, er streite doch nur für die Demokratie – doch das Wort wird bedeutungsleer.

In seiner Weihnachtsansprache 2018 nun warb Herr Steinmeier: »Sprechen Sie mit Menschen, die nicht Ihrer Meinung sind!« – und die üblichen Medien berichteten es, und wie es sich für brave deutsche Journalisten gehört, ohne auch nur den Anflug von erkannter Ironie (z.B. zeit.de, 24.12.2018).

» Lassen Sie uns dafür sorgen, dass unsere Gesellschaft mit sich im Gespräch bleibt«, sagte Steinmeier, und »sprechen Sie ganz bewusst mal mit jemandem, mit dem Sie aber sonst kein Wort gewechselt hätten« (ebenda).

Ich will es so sagen: Wenn Sie aktuell (pmi.com, 25.12.2018) die Website von Philip Morris International besuchen, steht da: »Designing a Smoke-Free Future« – eine für Zigaretten bekannte Marke wirbt für eine Zukunft ohne Rauch, und es fühlt sich für mich glaubwürdiger an, als wenn ausgerechnet Steinmeier für Dialog und Offenheit wirbt.

Potpourri des Widersinns

Steinmeiers Sätze ohne Unterleib sind ja nicht die einzige Meldung aus der logischen Gegenteilwelt!

Der OSZE-Chef Thomas Greminger sieht dieser Tage »einen Trend zu Nationalismus, der Europa von innen heraus schwächt« (siehe z.B. 24.12.2018). Die Bürger sehnen sich danach, selbst Verantwortung für ihr Land zu übernehmen. Warum fürchten die Eliten das? Meinen sie wirklich, dass der Kontinent Europa besser dran wäre, wenn die europäischen Bürger sich willenlos aufs Allwissen eines Jean-Claude Juncker ausliefern?

Ein EU-Innenkommissar fordert, die wenigen derzeit praktizierten Kontrollen an den Binnengrenzen des Schengenraums auch noch wieder aufzugeben. (siehe z.B. welt.de, 25.12.2018) Was ist sein Ziel? Es umherreisenden Terroristen wie Anis Amri noch einfacher zu machen? Wohl kaum, also was dann? Will er dafür sorgen, dass die zigtausenden illegal Einreisenden nicht mal mehr erfasst werden? Es ergibt keinen Sinn, und das wird immer mehr zum Markenzeichen der logischen Gegenteilwelt europäischer Eliten.

Ausgerechnet eine Politikerin der SPD, also einer populistischen Partei, die für Andersdenkende nur noch Hassworte wie »Nazi« und »Rechtsextremer« übrig hat, die rassistisch (siehe z.B. welt.de, 24.5.2018) und mit populistischen Fake News in Wahlkämpfe geht (sogar das stramm linke correctiv.org, 23.8.2017 spricht von »irreführend«), ausgerechnet eine SPD-Politikerin also »beklagt Verrohung der Sprache«, so z.B. dnn.de, 23.12.2018. Es ist fast so, als ob Nero sich fiedelnd über Brandstifterei empörte, nur dass der echte Nero höchstwahrscheinlich weder Rom angezündet noch während des Brandes gefiedelt hat (siehe auch: Deutschland brennt und die Linke fiedelt).

Es geht ja immerzu so weiter, und das seit Monaten und Jahren nun. Lügner wollen nicht Lügner genannt werden, Spalter beschwören Einigkeit, Demokratiekaputtmacher nennen sich Demokraten und Zensoren preisen die Meinungsfreiheit.

Kunst, als Lückenumriss

Wessen Verstand und Gewissen noch nicht vollständig haltungsvergiftet darniederliegen, der leidet heute gewiss an der Hegemonie der Unvernunft. Es ist ein Schmerz, diese Selbstverständlichkeit des Widersinnigen, und für diesen Schmerz finden sich kaum Worte.

Worüber man nicht mehr sprechen kann, weil die Worte fehlen, oder vielleicht auch nur, weil man des Sprechens darüber müde ist, darüber lässt sich noch immer Kunst machen!

Ein unbekannter Dichter hat vor langer Zeit ein Gedicht geschrieben, das die Lücke des Widersinns meisterhaft umzeichnet, und weil dieser Schmerz des Widersinns so groß und universell ist, erscheint uns dieses Gedicht (hier zitiert nach Wikipedia) auch witzig und leicht, bis heute, Jahrhunderte später:

Dunkel war’s, der Mond schien helle,
schneebedeckt die grüne Flur,
als ein Wagen blitzesschnelle,
langsam um die Ecke fuhr.

Drinnen saßen stehend Leute,
schweigend ins Gespräch vertieft,
als ein totgeschoss’ner Hase
auf der Sandbank Schlittschuh lief.

Und ein blondgelockter Jüngling
mit kohlrabenschwarzem Haar
saß auf einer grünen Kiste,
die rot angestrichen war.

Neben ihm ’ne alte Schrulle,
zählte kaum erst sechzehn Jahr,
in der Hand ’ne Butterstulle,
die mit Schmalz bestrichen war.

Ist sie nicht wunderbar, ist sie nicht wohltuend, diese Kunst, die uns hilft, mit dem Schmerz der Widersprüchlichkeit klarzukommen? (Womöglich war selbst Goethe vom Gedicht inspiriert, von dieser gedichtgewordenen Feier des widersprüchlichen Irrsinns, als er im Götz von Berlichingen formulierte: »Dunkel ist’s nicht draußen. Der Mond scheint helle« – oder war es der Dichter, der sich von Goethe zu seinem eigenen Meisterwerk anregen ließ?)

Ich wünsche uns natürlich Gesundheit und alles übrige Gute fürs neue Jahr, doch wie bewahren wir uns auch die geistige Gesundheit? Wir werden Wege brauchen, mit Widersprüchen aus den Mündern unserer Wichtigen klarzukommen, mit Forderungen von solcher Unglaubwürdigkeit, dass sich unser Verstand vor Schmerzen winden wird. Lerne, den Irrsinn zu sehen, ohne selbst irre zu werden!

Wie spricht man aus, was sich den Worten verschließt? Mit Kunst – vielleicht. Nein: Mit Kunst – sicherlich! Was haben wir denn sonst? Den Glauben, vielleicht, doch was ist auch dessen vornehmste Sprache? Wieder die Kunst!

Das Ringen mit Worten und um Worte, es wäre eintönig und ermüdend, wenn es für alles immer die passenden Worte gäbe, wie ein wohlsortierter Metallhandel, der für jede Schraube eine Mutter hat und für jede Mutter einen Preis.

Wir kramen und wühlen nach Worten für und wider den Wahnsinn. Und wir fragen, gerade zwischen den Jahren, wo wir ins neue Jahr hinübergelangen, rutschend und stolpernd: Was wäre der Wahnsinn ohne die Politik? Was wäre die Politik ohne den Widerspruch? Was wäre der Widerspruch ohne die Kunst? Nicht zuletzt: Was wäre der Schmerz ohne den Scherz?

Weiterschreiben, Wegner!

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