Als ich ein Kind war, legte mein Vater in sentimentalen Momenten die Schallplatte mit der 9. Symphonie von Antonín Dvořák auf.
Diese Symphonie trägt den Untertitel »Aus der neuen Welt«, und das bedeutet: aus Amerika.
Dvořák wurde 1841 in der Nähe von Prag geboren und starb 1904 ebenda. Doch für drei Jahre, von 1892 bis 1895, arbeitete er in New York als Direktor des Nationalen Konservatoriums.
Und dort, in der »Neuen Welt«, schrieb Dvořák im Jahr 1893 seine 9. Symphonie.
Man könnte meinen, dass die Melodien vom Heimweh singen. Und natürlich schwingt viel Sehnsucht nach der böhmischen Heimat mit. Doch Böhmen liegt nicht nur in Böhmen!
Die Deutschen machen sich ja gern mal lustig über die »böhmischen Dörfer«, doch draußen in der großen, neuen Welt steht »Böhmen« für freien Geist und erhabenes Lebensgefühl. Die »Bohème« waren die jungen, mutigen Intellektuellen des alten Paris. Das wichtigste Werk der populären Musik heißt übersetzt »Böhmische Rhapsodie«.
Es gab eine Zeit, da lag das metaphorische Böhmen in Paris und in New York.
Als Dvořák seine Symphonie aus der neuen Welt komponierte, behauptete er zunächst, er habe Motive »amerikanischer« Musik eingebaut. Später bestritt er es wieder. Unbestreitbar aber ist das Böhmische in Dvořáks Neunter.
Die Symphonie aus der Neuen Welt vertont den quälenden Zwischenzustand, den wir aus jener Redensart kennen: »Wen die Götter strafen wollen, dem lassen sie seine Wünsche wahr werden.«
Im 19. Jahrhundert – und eigentlich noch hundert Jahre später, bis zur Erfindung von Internet und Online-Video – galten die USA als Sehnsuchtsort und Utopie. Als Land der Freiheit und der Möglichkeiten. Eine Welt wie die unsere, europäische, aber eben neu.
Wer dem Traum folgte und nach Amerika übersiedelte, der fand tatsächlich ganz neue Möglichkeiten. Gewiss, zum vielen Licht gesellte sich viel Schatten. Doch einige sensible Seelen quälten nicht die Schattenseiten Amerikas, die Armenviertel und Fabriken, sondern der begriffliche Widerspruch einer wahr gewordenen Utopie.
Wonach sehnen wir uns, wenn unsere Sehnsüchte erfüllt sind?
Wir könnten Heimweh entwickeln, Nostalgie, Sentimentalität. Doch all dies braucht etwas Reales, das es gibt oder gegeben hat.
Ich verspüre dieser Tage wieder – und immer schmerzhafter – ein Zukunftsweh. Nostalgie nach einer Zeit, die noch gar nicht war.
Ich sehne mich nach etwas, das Sehnsucht rechtfertigen würde.
Dvořák fuhr nach Amerika, und dort war er etwas enttäuscht, als seine Sehnsucht erfüllt war.
Wie gern hätte ich eine Sehnsucht, die mich durch ihr Wahrwerden enttäuschen kann!
Wo ist mein Amerika?
Es gibt Orte auf dieser Welt, die in zehn und zwanzig Jahren sicherer sein werden als andere, und einige davon wiederum werden mehr Freiheit atmen. Doch selbst wenn: Macht äußere Freiheit allein ein Land zu meinem neuen Amerika?
Ich suche nach der neuen Neuen Welt, aus der ich Symphonien schreiben kann über den sentimentalen Schmerz erfüllter Sehnsüchte.
Wo ist mein Amerika, wo meine neue Neue Welt?
Die äußere Welt macht erst die innere Welt möglich, ich weiß, doch wie auch immer sich die äußere Welt entwickelt: Freiheit bleibt eine Eigenschaft der inneren Welt.
Ich tue mein Bestes, meinen »Innenhof« zu sichern und meine Kreise zu ordnen. Doch ich suche nach meinem neuen Amerika im Inneren, in mir.
Ich weiß, dass nicht wenige von Ihnen es ähnlich halten, dass Sie Ihre eigene neue Welt im »Inneren« suchen, im innersten Innenhof.
Wo liegt dein neues Amerika?
