Dushan-Wegner

04.01.2018

Es ist ein Ei

von Dushan Wegner, Lesezeit 4 Minuten, Bild: Sir John Tenniel, »Alice trifft Humpty Dumpty«
Lassen Sie mich Ihnen erzählen, wie Oliver Gorus aus Versehen ansetzte, aus dem #NetzDG freie Energie zu gewinnen.
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Vom Satiriker Karl Kraus (für den heutzutage wohl eigens die Prügelstrafe wieder eingeführt und ins NetzDG aufgenommen würde) ist dieses Bonmot überliefert:

»Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.«
Karl Kraus, Fackel 309/310 40

Man muss es sich ja vergegenwärtigen: Zensoren sind Menschen, die zur Erkenntnis gekommen sind, dass die beste Investition ihrer Talente sowie ihrer begrenzten Zeit auf Erden es sei, die frechen Gedanken anderer Menschen zu kontrollieren und »falsche« Gedanken auszulöschen. Karl Kraus fordert eine Satire, die so spitz und fein ziseliert ist, dass jene stumpfen Seelen sie gar nicht erst bemerken und verstehen, und sie folglich passieren lassen.

Durch den Spiegel

Es ist eine edle Forderung aus einer anderen, nicht besseren, aber zweifellos intellektuelleren Zeit.

Heute dagegen betrachtet sich die Gesellschaft in den »Sozialen Medien« wie in einem Spiegel und die Debatte begnügt sich nicht damit, sondern steigt gleich ganz hindurch, und betrachtet sich wieder, und ist wie betrunken, und manches ist spiegelbildlich.

Im Kopf des Zensors

Der Twitterer Oliver Gorus schrieb dieser Tage folgenden Tweet:

Es ist ein Ei
@olivergorus

Gorus ist kein Satiriker. Er ist ein Bürger mit einer gänzlich legalen Meinung. Doch heutzutage müssen sich auch unsatirische Bürger die Schrittfolge für den Tanz mit dem Zensor zurechtlegen.

Gorus sprach von »Ausländern«, von »rückständigen Kulturen« und von »Massen«, die »ins Land« kommen.

Selbstverständlich reagierten all die Zuspätgekommenen und Hilfszensoren geschwind und verpfiffen Herrn Gorus bei Twitter. Das darf man doch nicht sagen!

Was tat Twitter?

Sie blockten den Tweet in Deutschland. Zitat aus der Benachrichtigungs-E-Mail:

»Gemäß entsprechender Gesetze und unserer Richtlinien hat Twitter den gemeldeten Inhalt in Deutschland zurückgezogen.«

Auf Deutsch: Eine Blockade wahrscheinlich aufgrund von NetzDG.

Vergessen wir nicht: Die Kernidee des NetzDG ist, dass »offensichtlich rechtswidrige« Inhalte verschwinden sollen.

Ich habe einen der mich beratenden Anwälte gefragt, was er von dem Tweet hält. Seine Meinung, in meinen Worten: Man könnte es unappetitlich finden, wegen »Ausländer« et cetera, aber rein rechtlich praktisch harmlos – was keine Zustimmung zum Inhalt ist!!

Auf deutsch: Dieser Tweet wird wohl zensiert, weil der Zensor etwas in ihn projiziert hat, was gar nicht drin steht.

Wahrscheinlich hat der Zensor das Wort »Ausländer« gesehen und das Wort »rückständig«, und dann darauf geschlossen, dass irgendwie alle »Ausländer« als »rückständig« bezeichnet werden, was nicht der Fall ist.

Auf der anderen Seite des Spiegels

Karl Kraus sagte damals, man müsse so schreiben, dass der Zensor es nicht versteht. Heute, auf der anderen Seite des Spiegels, ist nicht entscheidend, was Sie gesagt haben und/oder was Sie gemeint haben, sondern ob Ihre Aussage einzelne Wörter enthält, die beim Zensor für schlechte Laune sorgen könnten.

Wir müssen eine neue Regel lernen: Schreibe jederzeit so, dass der Zensor dich nicht missversteht!

Und ja, das gilt auch für Satiriker. Inzwischen werden auch Witzemacher wie die Satire-Zeitschrift »Titanic« gesperrt – wohl aus eben diesem Grund: Sie haben so geschrieben, dass der eilige Zensor es missverstehen konnte.

Nachspiel

Wie jedes gute Geschichtchen hat auch das Twitter-Dramolett um diesen »bösen« Tweet einen »Third Act Twist«!

Herr Gorus schrieb als Reaktion auf die Sperrung diesen Tweet:

So sieht das #NetzDG in Aktion aus. Wahrheit und Meinung wird unterdrückt. Wenn mein Tweet strafrechtlich relevant ist, fresse ich einen Besen. Das ist ganz eindeutig ein Verstoß gegen die Meinungsfreiheit. [media]
@olivergorus, 4.1.2018

Da wo oben »media« steht, war ein Screenshot der Twitter-Sperr-Meldung, die eben auch den gesperrten Text enthielt.

Wie reagierte Twitter?

Richtig!

Sie sperrten auch den zweiten Tweet.

Sie dürfen nicht nur nicht so schreiben, dass der Zensor es missversteht – Sie dürfen auch nicht davon berichten, was es ist, das gesperrt wurde.

Andreas Eschbach, Autor von Das Jesus-Video, Eine Billion Dollar und vielen weiteren Büchern, brachte es auf den letztgültigen, absurden Punkt:

Seh ich das richtig, wer das #NetzDG kritisiert, wird schwuppdiwupp aufgrund des #NetzDG gelöscht?
Und: Könnte man aus diesem Kreislauf eventuell Energie gewinnen?
@andreaseschbach, 4.1.2018

Herr Gorus ist wohl aus Versehen auf das Geheimnis freier Energie gestoßen, am 4.1.2018 – was das neue Jahr ihm wohl sonst noch alles bringen wird?

Der gute Bürger vermeidet Provokation!

Der moderne Bürger in der postfaktisch-postdemokratischen Postrationalität muss sich an neue Regeln gewöhnen. Den Zensor nicht zu Missverständnissen zu verführen ist essentiell, doch es ist nicht genug! Heute gilt es, überhaupt niemanden zu provozieren.

Lewis Carroll hat es im Kinderbuch »Hinter den Spiegeln« vorhergesehen:

»Es ist äußerst provozierend«, sagte Humpty Dumpty und sah von Alice weg, »ein Ei genannt zu werden! Äußerst!«
Lewis Carroll, »Alice hinter den Spiegeln«

Nennen Sie das Ei nicht ein Ei, sonst fühlt sich das Ei provoziert – nennen Sie das NetzDG nicht Zensur, sonst fühlt sich der Zensor provoziert!

Weiterschreiben, Wegner!

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