Dushan-Wegner

09.12.2018

Das Lied der Innenhöfe

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Bild von Agathe Marty
Mit der Wahl von AKK steht leider fest: Es wird nicht besser werden. Es geht weiter, und damit gilt: Isch over. – Der Realist, der Hoffnung sucht, singt ein neues Lied, es ist »Das Lied der Innenhöfe«.
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Wir hören eine neue Melodie, ein neues Lied! Muss Nostalgie sich denn immer nur vom Vergangenen singen? Wir kennen ja nicht nur das Heimweh, wir kennen auch das Fernweh, warum also nicht ein Zukunftsweh? Ein Weh, ein Verlangen, in der Zukunft endlich Ruhe zu finden.

Wir hören uns selbst eine neue Melodie singen. Es ist das Lied der Innenhöfe.

Es ist ein fröhliches Lied!

Dass wir es singen müssen, dass uns Wählern keine Wahl bleibt, dieser Umstand ist sehr traurig, gewiss, doch im Lied selbst sind einige Reiskörner an Hoffnung enthalten.

Wer das neue Lied singt, der hat sich verabschiedet von der Illusion, es möge wieder werden wie früher, wie vor der Zerstörerin, vor den Globalisten, und man ist ja schon froh, wenn es nicht wird wie in Frankreich, wo sie heute Panzer gegen die Unzufriedenen und Zukunftsberaubten auffahren.

Kierkegaard versteht uns. Er schreibt:

Mir ist zu Mute, wie einem Steine im Schachspiel es sein mag, wenn der Mitspieler von ihm sagt: Der Stein kann nicht mehr gerückt werden. (Sören Kierkegaard, Entweder-Oder)

Was soll denn die Schachfigur tun, wenn sie blockiert und bedroht ist, wenn sie in die Ecke gespielt wurde von einem ungeschickten oder wenig ernsthaften Spieler? Ist es die Schuld des Turms, wenn die Bauern ihm den Weg blockieren?

Was soll der Läufer denn tun, wenn die Raubritter des Gegners ihm nach dem Leben trachten, doch die Dame ihn blockiert, so dass er nicht einmal gefahrlos stehen bleiben kann?

Der Läufer muss ein neues Spiel spielen, und ein neues Spiel braucht ein neues Lied: das Lied der Innenhöfe.

Isch over

Im Text »Die Zukunft der Parteien ist Effizienz – wollen Sie das?« schrieb ich im Juni 2018, also heute vor einem halben Jahr:

Aktuell wird ja von der CDU die nondeskripte und rhetorisch eher »grüne« Annegret Kramp-Karrenbauer zum Merkel-Klon aufgebaut. Auf der Homepage der CDU wird zur »Zuhör-Tour« mit »AKK« eingeladen. (Aktuell erweckt die Homepage der CDU den Eindruck, Kramp-Karrenbauer sei bereits Kanzlerin.) Es ist ein bemerkenswertes Unterfangen der Politikkommunikation, ein politisches Nichts von einer Hülle in eine andere Hülle umgießen zu wollen. Es ist, wie wenn Kinder »Kaffee und Kuchen« spielen und aus der leeren Spiel-Kaffeekanne die Luft in die ebenfalls leere Spiel-Tasse umfüllen.

Jetzt ist sie halt da, nicht die Hoffnung, nein, aber die nächste Merkel, AKK.

Die CDU-Delegierten – zumindest ausreichend viele von ihnen – haben gehorsam die lauwarme, nicht ganz frische Luft von einer Hülle in die andere Hülle umgefüllt.

Hatten wir denn Hoffnung? Zuletzt, gerade eben noch, im und am Höhepunkt des merkelschen Werks, konnten wir uns für eine kurze Zeit an der Illusion von Hoffnung wärmen, dass vielleicht die Dinge doch anders als von der Alten geplant verlaufen könnten, weniger schlimm, weniger suizidal, doch mit der Wahl von »Alles Kalter Kaffee« (mit Dank an Wolfgang Herles) starben die Illusion von Hoffnung und damit eben auch die Hoffnung. Ab jetzt gilt nur noch Realismus.

Um es mit den Worten von Wolfgang Schäuble zu sagen (der auch mal Kanzler-Hoffnung war und nun den AKK-Konkurrenten Merz empfahl), wenn er auch diese Worte in anderem Kontext sprach: Isch over.

Es soll ja Bürger geben, die hoffen, dass AKK eines Tages ihren Glasnost-Moment bekommt und zu reparieren beginnt, was Merkel zerstörte, doch solche Hoffnung setzt als Prämisse voraus, dass Merkel in ihrer wichtigsten Entscheidung, nämlich jener, wer die geschleifte Erde an ihrer Stelle salzig hält, in ihrem Macht- und Menscheninstinkt versagte.

Nein, mit AKK wird es weitergehen. AKK bedeutet »Weiter so!«, und »Weiter so!« bedeutet: Isch over.

Wir singen das Lied

Wenn die Feuersbrunst droht, empfiehlt es sich, in Löschschläuche und Wassereimer investiert zu haben.

Es klingt ein neues Lied, das Lied der Innenhöfe. Im Text »Vier Welten – welche wählen wir?« sprach ich von den Innenhöfen, in welche wir uns zurückziehen werden, in welche wir uns bereits zurückzuziehen begonnen haben – als Metapher und ganz konkret. Ich stimmte, versuchsweise, einen Ton an, und eine gute Zahl von Ihnen stimmten mit in das Lied ein, ja, viele von Ihnen singen es bereits seit einigen Jahren.

Sie schrieben mir davon, wie Sie für sich und Ihre Familien längst begonnen haben, Innenhöfe zu suchen, einzurichten und zu beziehen – man hört ein neues Lied, und es wird lauter: das Lied der Innenhöfe.

Doch, nicht alle finden ihre Stimme, nicht alle können sie finden: Manche von Ihnen sind schlicht nicht in der Lage, einen Innenhof zu finden.

Einige haben ihre Zukunft draußen geplant, auf den Märkten und öffentlichen Plätzen, und nun gehören diese Orte den neuen, wichtigeren Leuten – weh dem, der keinen Innenhof hat!

Nicht wenige – erschreckend viele – von Ihnen sagen: »Ich selbst werde das Lied der Innenhöfe nicht mehr anstimmen können, aber meine Kinder sollen es singen können!«

Es war schon immer eine gute Idee, seine Kinder fremde Sprachen lernen zu lassen, und heute scheint es buchstäblich fürs Überleben notwendig zu sein. Wer kann, zahlt seinen Kindern die teure Privatschule mit Vorbereitung aufs Internationale, oder er lässt sie gleich im Ausland lernen.

Wer im Land bleibt, kauft sich selbstschließende Garagen und sichere Fenster. Wir singen das Lied der Innenhöfe. Es ist nicht das Lied, das wir singen wollten.

Und doch – da bleibe ich unverbesserlich – trotz und bei allem: Es hat auch sein Reizvolles, sein Positives, es hat seine charmanten Harmonien, dieses neue Lied der Innenhöfe!

Wir werden eine Renaissance der Salons und Clubs erleben (endgültig tot waren sie ja nie, sie rochen nur eine Zeit lang etwas komisch). Auch der Mittelstand wird sich Künstler nach daheim einladen. Lieferdienste und Heimservices werden einen neuen Boom erleben, werden zum Standard statt zur Notlösung.

Im Rom der Antike empfing man Fremde wie Freunde im Atrium, dem fein gestalteten Innenhof, und es war oft ein prachtvoller Ort. Wer demnächst in spanischen Städten wie Palma de Mallorca zu Besuch ist, dem sei geraten, eine Tour der traditionellen Innenhöfe zu buchen.

Wir können dazulernen, aus der Vergangenheit für die neue Zukunft. Wir sind nicht die ersten, die das Lied der Innenhöfe sangen, wir wollen von früheren Sängern lernen, und doch werden wir eine eigene Interpretation finden, das traue ich uns zu.

Singen Sie schon mit oder hören Sie bislang nur zu? Und wenn Sie diese Melodie nicht hören, welche hören Sie dann? Die Trommeln aus Frankreich vielleicht? Ganz andere Töne aus den verschieden fernen Ländern im Osten gar?

Diese Schachfigur kann nichts dafür, dass sie von dummen Spielern in die Ecke gestellt wurde! Was bleibt dem Spielstein denn übrig, als sich sein Gefangensein mit neuen Kissen und etwas Tapete ein wenig erträglicher zu gestalten – ja, vielleicht sogar schön und angenehm!

Isch over, das Alte ist vorbei, eben weil das und die Alte in neuer Hülle bleibt. Können wir ein Zukunftsweh entwickeln, eine nostalgische Freude auf das neue Private? Es wäre anzuraten.

Das Lied der Innenhöfe wird gesungen werden. Wir haben es uns nicht ausgesucht, wir wollten andere Melodien pfeifen.

Jetzt ist es halt da, das neue Lied, doch es liegt an uns, auch schöne Töne darin zu finden.

Weiterschreiben, Wegner!

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