Dushan-Wegner

16.02.2018

Alte Familie, neue Familie

von Dushan Wegner, Lesezeit 6 Minuten, Foto: Andrea Reiman
Manchen Leuten fehlt einfach das Talent, etwas zu glauben, was offensichtlich nicht stimmt. Solche Menschen könnten sich heute einsam fühlen – doch die »innerlich Ungehorsamen« sind auch eine Art von Familie!
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Wir sprachen von der Wahrheit und ihren Feinden. Wir sagten »die« Wahrheit, und gingen davon aus, dass es nur eine gibt. Das ist ja auch nicht falsch (nicht falsch zu liegen ist oft Wahrheit genug). Entweder das Verhältnis zwischen Gesprochenem und Besprochenem ist stimmig – oder eben nicht. Diese Stimmigkeit ist wohl Wahrheit. Wenn man umgangssprachlich sagt, jeder habe seine Wahrheit, dann umschreibt man damit – im höflichsten Fall – die Möglichkeit eines verzeihlichen Irrtums. – Gelegentlich aber begegnet uns das Wort »Wahrheit« tatsächlich im Plural, nämlich als »Wahrheiten«, also kleine Merk-Sätzchen, in die Weisheit und Erfahrung der Menschheit codiert wurden.

Wahrheiten sind der Versuch des Menschen, in der Kakophonie des Alltags die eigentliche, die schöne, ja, die wahre Melodie herauszuhören. Und viele unserer Wahrheiten kreisen um die Themen Familie und Zuhause.

Spruchweisheiten formulieren unsere Sehnsucht nach einer Familie, wo einer für den anderen einsteht, wo eine Generation sich als Wegbereiter für die immer nächste Generation hingibt: »Ist eine Mutter noch so arm, so gibt sie ihrem Kinde warm.«

Damals, als verwandte Menschen meist auch wirtschaftlich voneinander abhängig waren, entstand die Vorstellung, dass Familie immer auch Menschen sind, die uns so akzeptieren, wie wir sind. Man ärgerte sich über sie, aber man war an sie gebunden, und so hatte man keine Wahl, als sie zum Teufel zu wünschen und war doch bereit, wenn nötig, sein letztes Brot mit ihnen zu teilen. »Verwandte«, ruft Berta in Two and a Half Men, »man kann nicht mit ihnen leben und man kann sie nicht verpfeifen um die Belohnung zu kassieren!«

Mit dem Stadtleben und Industrialisierung allerdings wurde die blanke Notwendigkeit der Familie allmählich schwächer. Die Kirchen verloren ihren moralischen Zugriff auf die Familie, und so wurde auch die Verbindung durch die Ehe selbst lockerer.

Das Zerfasern und Auskühlen familiärer Verbindungen hinterließ Menschen mit der ziellosen Sehnsucht nach einer sie bedingungslos aufnehmenden Struktur. Vertun wir uns nicht: Die Familie, nach der sich unglückliche Großstadtsingles sehnen, würden sie in der Realität als viel zu einengend empfinden. Sie sind wie Fliegen, die sich gern ein wenig auf dem Spinnennetz ausruhen würden, um dann bald wieder gestärkt weiterzufliegen. Eine echte Familie ist aber kein Motel am Rastplatz, kein Starbucks an der Straßenecke, wo man für ein paar Euro mit dem Vornamen angesprochen wird, und auch einen Kaffee bekommt. Beim Starbucks kannst du jederzeit aufstehen und rausgehen, und wieder hineinkommen, eine Woche oder ein Jahr später, und niemand macht dir einen Vorwurf draus – eine Familie hält dich, und das Halten lässt sich so und so interpretieren.

Als wäre das alles nicht schwierig genug, haben die letzten Jahre einen zusätzlichen Riss durch viele Familien gezogen.

Vorsichtig formuliert: Die Bereitschaft, alles zu glauben, was man im Fernsehen hört, ist in den Familien unterschiedlich stark ausgeprägt, auch sind nicht alle Familienmitglieder demselben Meinungsdruck ausgesetzt. Man stelle sich etwa einen Polizisten vor, der in Köln-Nord seinen Dienst leistet, dessen Tochter aber im Kölner Süden von linksgrünen Pädagog_innen beschult wird, den Schulweg in Mamas VW Golf bestreitend, die Nachmittage im Garten oder im Sportverein mit Mittelstandsfreundinnen spielend – da entwickeln Vater und Tochter ein sehr verschiedenes Bild davon, wie die Realität ist. Aber auch unter Erwachsenen: Wenn unter Geschwistern etwa der Bruder als Richter oder Feuerwehrmann tätig ist, die Schwester aber beim WDR arbeitet, werden auch die schnell ein sehr unterschiedliches Weltbild entwickeln.

Dies sind wahrlich keine theoretischen Fälle! Ich erlebte erst letztens eine Familie, wo Mutter und Tochter nur noch vorsichtigst miteinander reden, alle Themen um Gesellschaft und Politik penibelst umtanzend. Die Mutter ist Lehrerin, die Tochter ist Medienschaffende. Sie reden nicht mehr über Gesellschaft, nicht mehr über den Job der Mutter, nicht mehr über Politik. Ihre Gespräche sind nur noch kalte Belanglosigkeit. Die Tochter ist genervt, dass ihre Mutter »wie eine Rechte« klingt. Die Mutter ist traurig, dass sie mit ihrer Tochter nicht mehr über ihren eigenen, täglichen Alltag reden kann. Und ich bin immer wieder geschockt, wie die Propaganda der Verharmloser und Leugner ihr Gift selbst in die Familien hinein streuen kann. Es ist kein Einzelfall.

Eine Leserin schrieb mir Folgendes, ich zitiere mit ihrer Erlaubnis:

Informationen ziehe ich mir seit langem aus diesen Adressen die sie auf Ihrer HP mit Freie Denker bezeichnen. Ich empfinde das Lesen dort wie ein Zusammentreffen mit einer „Geistigen Familie“, ich hoffe, Sie verstehen was ich meine. (Meine eigene Familie ist deutlich von mir abgerückt, ich wäre so seltsam drauf, es ist doch alles prima in Deutschland….)

Es sind natürlich freundliche Worte, die das Projekt Freie Denker loben.

Es ist zugleich erschreckend. Ein Familiengefühl durch ein paar Internet-Blogger? Sind wir als Gesellschaft wirklich in so grundlegenden Fragen so weit auseinander, dass wir über das Internet nach Gleichgesinnten suchen müssen?

Mir fällt dazu ein Witz ein:

Ein altes Ehepaar lässt sich nach 40 Jahren Ehe scheiden.
Sagt die Frau: »Endlich muss ich nicht mehr jede Woche mit dir in deine dämliche Oper gehen!«
Sagt der Mann: »Meine Oper? Ich hasse die Oper! Ich bin hingegangen, um dir einen Gefallen zu tun!«

Nein, ich sage nicht, dass hinter jedem zweiten Verharmloser ein heimlich kritischer Geist steckt, der bloß noch nicht die Gelegenheit hatte, herauszukommen. Ich habe den Witz eigentlich nur erzählt, um kurz davon zu träumen, dass es doch nett wäre, wenn dem so wäre.

Zurück aus dem Witzlein zur Realität, und mit »Realität« meine ich Goethe:

Eine junge Zeder wuchs schlank auf und schnell und drohte die andern zu überwachsen. Da beneideten sie alle. Und ein Held kam und hieb sie nieder, und stutzte ihre Äste, sich zur Lanze wider die Riesen. Da riefen ihre Brüder! Schade! schade! Die Eiche sprach: ich gleiche dir Zeder! Tor! sagte die Zeder: als wollt ich sagen ich gleiche dir. Zwei Birken stritten: wer der Zeder am nächsten käme. Birken seid ihr! sagt die Zeder. Uns ist wohl sagte ein brüderlich gleicher Tannenwald zur Zeder, wir sind so viel und du stehst allein. Ich habe auch Brüder, sagt die Zeder wenngleich nicht auf diesem Berge.
– Goethe, Religiöse Schriften

Auf absehbare Zeit werden viele kritische Geister damit leben müssen, ein Stück weit allein zu sein. Es ist kein schönes Gefühl. Je älter ich werde, um so mehr vermute ich aber, dass es nicht optional ist. Nicht jeder Mensch wird mit denselben Talenten geboren. Mir etwa fehlt das Talent zum Geigespielen. Ich bin ernsthaft der Überzeugung, dass es ein angeborenes Talent ist, vorgegebene Tagesmeinungen zu übernehmen ohne an der kognitiven Dissonanz zu zerbrechen. (Heutige) Journalisten und Politiker müssen dieses Talent besitzen, deshalb verstehen sie sich auch so gut. Sie nennen es die »gemeinsame Wellenlänge«. Die Menschen aber, die ohne das Talent zum inneren Gehorsam geboren wurden, auch die bilden eine Art von Familie. Die Familie der innerlich Ungehorsamen mag zerstreut sein, sie mag dysfunktional sein und ständig im Streit, und doch – wie es mit Familien so ist – es ist die einzige Familie die wir haben.

Weiterschreiben, Wegner!

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